Genitalverletzungen von Männern: Ein sehr lautes Schweigen

Geschlechterforscherin Myriam Raboldt untersuchte, wie mit Genitalverletzungen von Männern umgegangen wird

  • Interview: Angela Stoll
  • Lesedauer: 6 Min.
Ist das Genital zerstört, was bleibt vom Mann?
Ist das Genital zerstört, was bleibt vom Mann?

In Ihrer Dissertation geht es um Genitalverletzungen bei Männern. Wie sind Sie auf dieses ungewöhnliche Thema gekommen?

Ich habe vor zehn Jahren an einem Forschungsprojekt der TU Berlin und des Hygienemuseums in Dresden mitgearbeitet, bei dem es vor allem um Prothesen versehrter Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg ging. In erster Linie drehte es sich um Arm- und Beinprothesen – eben das, was man sich bei dem Thema klassisch vorstellt. Ich hatte gelesen, dass es auch Genitalverletzungen in diesen Kriegen gab. In der großen Prothesensammlung des Hygienemuseums fanden sich aber keinerlei Penis-Prothesen aus dieser Zeit. Was war damit? Bei meinen Recherchen stellte sich heraus, dass auch andere Institutionen und Museen hier Lücken in ihren Archiven hatten. Damit hatte sich noch nie jemand wirklich beschäftigt. Dann dachte ich: Spannend ist doch eigentlich, was mit dem Schritt davor ist, also: Wie erleben Cis-Männer (Männer, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde und die sich damit identifizieren – Anm. d. Redaktion) den Verlust ihrer Genitalien? Das ist ein Bereich, den noch niemand erforscht hat.

Wie kommt es heute zu einer Genitalverletzung?

Auch in aktuellen Kriegen ist das eine häufige Verletzung, weil viele improvisierte Sprengfallen eingesetzt werden. Wenn man auf diese tritt, können sie einem den Unterleib zerfetzen. Vor allem in der US-Armee ist diese Form von Verletzung ein großes Thema. Abgesehen davon spielen Krebsbehandlungen und medizinische Komplikationen eine Rolle. Hoden- und Peniskrebs kann dazu führen, dass Teil- oder Komplettamputationen der Genitalien nötig sind. Ein weiterer Bereich sind sozusagen Zivilverletzungen. Manches davon ist sehr kurios – zum Beispiel kann es beim Stierkampf zu Genitalverletzungen kommen, wenn man vom Horn getroffen wird.

Interview

Myriam Raboldt (38) ist wissenschaft­liche Mitarbeiterin am Zentrum für Inter­diszi­pli­näre Frauen- und Geschlechter­forschung der TU Berlin. Ihre Dissertation »Schwei­gen, Scham und Männlichkeit. Leben mit Genitalverletzungen« ist im Open Access und als Buch erschienen.

Wie reagieren Leute, wenn Sie von Ihrer Forschung erzählen?

Ein bisschen peinlich berührt und ein bisschen belustigt. Gerne werden auch Witze gemacht. Viele sagen aber auch: »Krass, wusste ich gar nicht, dass es das gibt!« Und warum? Weil niemand darüber spricht. Auch für mich war es schwierig, Interviewpartner zu finden. Eine Ärztin hat für mich Patienten aus dem Peniskarzinom-Register abtelefoniert, aber niemand war zu einem wissenschaftlichen Interview bereit. Später haben mir viele meiner Interviewpartner gesagt, dass sie höchstens mit der Partnerin über ihre Probleme sprechen. Bekannten und Kumpels wollten sie sich nicht anvertrauen, weil die das überfordern könnte – sie wüssten auch gar nicht, wie sie so ein Gespräch anfangen könnten. Da ist eine große Scham und auch eine Angst vor Beschämung. Einer hatte eine Penisamputation, und das weiß einfach niemand. Bei Frauen gibt es da offenbar schon eine andere Offenheit, wenn man bedenkt, wie viele Studien es mit Brustkrebs- und Gebärmutterkrebs-Patientinnen gibt.

Hat es auch medizinische Folgen, dass das Thema so schambehaftet ist?

Einer meiner Interviewpartner wäre fast an Peniskrebs gestorben, weil er sich nicht getraut hat, zum Arzt zu gehen. Es war letztlich seine Partnerin, die für ihn einen Termin ausgemacht hat. Der Krebs war dann so weit fortgeschritten, dass der Mann dreimal operiert werden musste und es nicht sicher war, ob er überlebt. Dabei kann man die Erkrankung eigentlich gut behandeln, wenn sie rechtzeitig festgestellt wird. Heute macht ihm diese Erkenntnis auch ganz schön zu schaffen.

Wie haben Sie dennoch Interviewpartner gefunden?

Ich habe einen Aufruf in einem medizinischen Internetforum gepostet. Als ich hinzugefügt habe, dass auch anonyme Chat-Interviews möglich sind, haben sich mehr Leute gemeldet als vorher. Mit sechs Männern habe ich längere Interviews geführt, die ich auch ausgewertet habe. Zwei davon habe ich über persönliche Kontakte gefunden. Ein weiterer Mann aus dem Forum hat ebenfalls Interesse gezeigt und mir geschrieben, dass er sich selbst verstümmelt hätte. Mit ihm habe ich nicht gesprochen, da ich ja Männer gesucht habe, die ungewollt in diese Situation geraten sind.

Was bereitet den Männern besonders große Probleme?

Das lässt sich nicht verallgemeinern. Allerdings hatten alle Interviewpartner das Bedürfnis, sich mit anderen auszutauschen. Sie haben auch alle die Erfahrung gemacht, dass das aus irgendwelchen Gründen nicht klappt. Eigentlich handelt es sich um Einzelpersonen, die kaum miteinander in Kontakt sind. Da ist eine große Einsamkeit. Viele sagen, dass es keine Anlaufstellen für ihr Anliegen gibt und sie nicht wissen, wo sie andere Betroffene finden können. Es gibt keine Strukturen wie etwa für Transpersonen oder Menschen mit Brustkrebs. Außerdem fehlt ihnen oft ein soziales Umfeld, in dem sie über ihr Leiden sprechen können.

Wie gehen sie mit Sexualität um?

Auch das ist ein großes Thema, auch wenn nicht alle Interviewpartner offen darüber gesprochen haben. Für viele gab es bisher einen begrenzten Rahmen, in dem sie die eigene Sexualität kennengelernt und praktiziert haben. Dadurch stellt sich für sie die Frage, wie sie damit umgehen, wenn manches nicht mehr so funktioniert, wie sie es kennen. Oft geht die Erfahrung des Nicht-mehr-Funktionierens so weit, dass Betroffene suizidale Gedanken haben. Und noch etwas zieht sich durch meine Interviews und auch durch die Literatur, die ich gelesen habe: Viele Männer leiden sehr darunter, wenn sie nicht mehr im Stehen urinieren können.

Ist es Ihren Gesprächspartnern gelungen, sich mit ihrer Situation zu arrangieren?

Das ist unterschiedlich und lässt sich von außen auch schwer beurteilen. Ein Mann hat mir zum Beispiel berichtet, dass ihn seine Erektionslosigkeit nicht weiter stört. Seine Partnerin und er würden sowieso keinen großen Wert auf gemeinsame Sexualität legen. Gleichzeitig war ihm klar, dass Erektionsprobleme für Männer gesellschaftlich ein riesiges Problem sind. Am Ende wollte er sich von mir bestätigen lassen, dass seine Einstellung zur Sexualität dennoch in Ordnung ist – das fand ich interessant. Der Mann, der beinah an einem Peniskarzinom gestorben wäre, hat sich eine professionelle Penisprothese anfertigen lassen. Er hat versucht, etwas aus der Situation zu machen. Ein anderer hat ein Theaterstück über seine Hoden-Amputation geschrieben. Er ist also sehr offen mit dem Thema umgegangen.

Was ist die wichtigste Erkenntnis Ihrer Arbeit?

Sie bezieht sich eigentlich auf den gesamten Forschungsprozess: wie zäh es war, Interviews zu führen und über das Thema zu sprechen. Ich habe festgestellt, was für ein großes Tabu es ist, wenn Cis-Männer körperliche Versehrtheiten haben. Ein Penis ist stark mit einer funktionierenden Männlichkeit verknüpft. Ich war überrascht, dass es so schwierig war, Gesprächspartner zu finden. Ich dachte auch, dass wir viel offener über alternative Sexualpraktiken sprechen können. Es hat seinen Grund, warum meine Arbeit »Schweigen, Scham und Männlichkeit« heißt. Sowohl auf wissenschaftlicher, gesellschaftlicher als auch auf individueller Ebene wird geschwiegen. Ich finde dieses Schweigen doch ganz schön laut.

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