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»La Bohème« im Prenzlauer Berg: Kieztreff aller Generationen
Das soziale Projekt steht vor dem Aus - Jobcenter streicht Förderung
Schuld ist ausnahmsweise mal nicht die erhöhte Miete. Bei dem Versuch, den intergenerationalen Kieztreff in Prenzlauer Berg zu retten, sehen sich die Betreiber*innen des »La Bohème« stattdessen mit dem Jobcenter konfrontiert.
Am Tag der Arbeit erhielt das »La Bohème« die Hiobsbotschaft: Das Jobcenter versagte dem Verein plötzlich die staatlichen Zuwendungen. Ungefähr vier Jobsuchende arbeiteten meistens für ein Jahr lang dort. Sie wurden vom Jobcenter über die sogenannte Arbeitsgelegenheit vermittelt – der Verein unterstützte bei der Arbeitsuche und bekam dafür eine Entschädigung vom Jobcenter. Rund die Hälfte der Kosten für das Projekt wurden so über Jahrzehnte hinweg gestemmt.
Wie die »Berliner Morgenpost« berichtet, begründet das Jobcenter die Kürzung damit, dass »im Schnitt unter 80 Prozent der geplanten Plätze« besetzt gewesen seien und nicht von einer ausreichenden Besetzung für 2025 auszugehen war.
»Wir streben jedoch eine höchstmögliche Besetzung der Plätze an, da wir unsere Eingliederungsmittel wirtschaftlich auslasten wollen«, teilt die Behörde weiter mit. Zudem habe eine Analyse über den Verbleib der Teilnehmenden ergeben, dass der Integrationserfolg in den regulären Arbeitsmarkt »nicht ausreichend gegeben war«. Eine Sprecherin weist gegenüber der »Berliner Morgenpost« zudem darauf hin, dass die Aufgabe der Jobcenter die Förderung einzelner Personen im Sinne des Arbeitsmarktes sei, »nicht die Förderung sozialer Strukturen, dafür gibt es andere Förderträger«.
In den vergangenen Jahren war es für viele Menschen, die über die Arbeitsgelegenheit im »La Bohème« landeten, immer schwerer, Arbeit zu finden, erklären die Organisatorinnen des Projekts Uschi und Angelika im Gespräch mit »nd«. Darunter waren alleinerziehende Mütter, psychisch kranke und alte Menschen. »Wie soll man denn auf dem ersten Arbeitsmarkt so leicht Jobs finden, wenn man zwei kleine Kinder hat und nur vormittags arbeiten kann?«, sagt Uschi.
»Für uns ist das ›La Bohème‹ ein Wohnzimmer.«
Ursula »Uschi« Kriese
Gründerin des sozialen Kieztreffs
Mal ein »Tachchen«, mal ein Luftkuss oder eine Umarmung – während des Gesprächs mit Uschi und Angelika vorm »La Bohème« laufen ständig junge und alte Menschen vorbei, die die beiden Frauen begrüßen. »Gehts denn nun weiter?«, fragt eine ältere Dame auf Krücken. »Na wollen wa hoffen«, sagt Uschi, die positiv bleiben will. Genauso wie die alte Dame, die über die hohen Rechnungen klagt, die sie ihre Arztbehandlungen kosten.
Für den Kiez ist die Nachricht ein Schock: Denn neben Veranstaltungen mit den ostdeutschen Kultgrößen wie der Journalistin Marion Brasch, dem Schauspieler Milan Peschel oder der Opensängerin Winnie Böwe lebte im »La Bohème« nicht nur ein Stückchen DDR-Geschichte weiter, sondern auch ein sozialer Geist. Veranstaltungen laufen auf Spendenbasis. Montags gibt es Schach, mittwochs Tango und außerdem kostenlose Angebote zur Nachbarschaftshilfe wie ein Kummertelefon und eine Einkaufshilfe, die in Corona-Zeiten entstanden sind.
Dabei ist das Projekt etwas Besonderes: Zwischen einem Spa, in dem Mütter ihre Babys »floaten« lassen können und einem Nagelstudio, das Frauen mit der Maniküre auch eine Finanzberatung anbietet, entzieht es sich dem Kommerz. Hier sei jeder willkommen, wie Uschi und Angelika betonen, die den Ort auch »das Wohnzimmer« nennen. Denn im »La Bohème« gehe es um das Gemeinsame und das soziale Miteinander, sagt Uschi. Darum passe der Name des Vereins auch so gut: Der Freundeskreis Tina Modotti e.V. erinnert damit an die italienische Kommunistin.
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Seit 1968 wohnt Uschi im Winsviertel. Neben zwei verschiedenen Staaten hat sie auch die Gentrifizierung im Kiez miterlebt. »Es wandelt sich zum Besseren«, sagt sie. Die soziale Mischung nehme in den vergangenen Jahren wieder zu, die Hausbesitzer, die ausschließlich unbezahlbare Mieten verlangen, würden weniger.
Solidarität erfährt das »La Bohème« nicht nur aus der Nachbarschaft. Die Grünen-Bezirksverordneten Paul Schlüter und Heike Schmidt setzen sich für den Erhalt des Kieztreffs ein. Sie schlagen dem Sozialausschuss am 3. Juni vor, einen Antrag zum Erhalt des sozialen Projekts in der Bezirksverordnetenversammlung einzureichen. »Wir werden alles daran setzen, das ›La Bohème‹ zu retten«, erklärt Schmidt. »Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung brauchen wir Orte, die Menschen verbinden – unabhängig von Alter, Herkunft oder sozialem Hintergrund«, sagt die seniorenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion.
Spendenkonto: Freundeskreis Tina Modotti Archiv e.V. IBAN: DE49 1001 0010 0001 0751 09 BIC: PBNKDEFFXXX
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