Transnistrien: Selfie mit Lenin

Ein Ausflug in die abtrünnige Teilrepublik beschert reichlich Sowjet-Gefühle

  • Niklas Franzen und Johan Mellström
  • Lesedauer: 7 Min.
Nach dem Berliner Vorbild gestaltet: Lenin-Statue vor dem Obersten Sowjet von Tiraspol
Nach dem Berliner Vorbild gestaltet: Lenin-Statue vor dem Obersten Sowjet von Tiraspol

»Passport«, raunzt die Frau hinter dem Schalter. Sie trägt eine moosgrüne Uniform, hat pinke Haare, Nagellack im Leopardenmuster. Sie blättert durch den Pass. Ein kurzer Blick nach oben. Wie lange wir bleiben? Einen Tag. Sie gibt den Pass zurück. Ebenso ein Papier, auf dem »Migration Card« steht. Der Nächste, bitte!

Hier verläuft eine Grenze, die völkerrechtlich eigentlich nicht existiert. Und doch stehen überall bewaffnete Soldaten, von denen manche kaum älter als Teenager wirken. Über dem Grenzposten weht eine Fahne: rot, grün, rot, verziert mit Hammer und Sichel. Es ist die Flagge Transnistriens – oder, wie es laut einem Poster am Übergang korrekt heißen müsste: Pridnestrowje. Transnistrien, so steht dort, sei der Name, den rumänische Faschisten während des Zweiten Weltkriegs verwendet hätten. Vieles ist kompliziert in diesem kleinen Landstrich am östlichen Rand der Republik Moldau. Doch genau das macht für viele den Reiz aus. Immer mehr Tourist*innen zieht es nach Transnistrien.

Eine Stunde zuvor. Unweit der Prachtstraße Ștefan cel Mare in der moldauischen Hauptstadt Chișinău liegt ein riesiger Markt. Schon am Morgen herrscht hier geschäftiges Treiben. Frauen mit Goldzähnen schleppen dicke Taschen auf dem Rücken, aus Lautsprechern ertönt blechern russischer Pop. Etwas abseits warten die Marschrutkas – das russische Wort für Sammeltaxis. Die Fahrer stehen neben ihren Fahrzeugen, frönen dem moldauischen Volkssport: Herumstehen und Rauchen. Wir sprechen einen Mann an. »Nach Tiraspol?« Er deutet auf einen Minibus: »Dort drüben.« Die Fahrt kostet 57 Lei, knapp drei Euro.

Wir setzen uns. Der Fahrer mit dem typischen Kurzhaarschnitt zählt durch. Als der Minibus voll ist, wirft er den Motor an. Mehrmals am Tag pendeln die Marschrutkas die 80 Kilometer von Chișinău nach Tiraspol. Im Radio dudelt Popmusik, am Rückspiegel baumelt ein Duftbaum mit Erdbeergeruch, von der Wand des Wagens glotzt ein Heiliger herab. Eine ältere Frau mit feuerrotem Haar bekreuzigt sich bei jeder Kirche, die der Kleinbus passiert. Und davon gibt es hier viele.

Wir lassen die Plattenbauten Chișinăus hinter uns. Moldau ist nicht gerade reich an Naturwundern: keine Berge, kein Zugang zum Meer, kaum Wälder. Was das Land jedoch zu bieten hat, ist ausgezeichneter Wein und die historische Stätte Orhei Vechi mit ihrem spektakulären Höhlenkloster. Auch Liebhaber sozialistischer Architektur kommen hier auf ihre Kosten. Trotzdem zieht es bislang nur wenige ausländische Tourist*innen hierher. Gerade einmal 67 000 Menschen reisten im Jahr 2024 in die Republik Moldau. Entlang der von Schlaglöchern durchzogenen Straße stehen Schilder mit der Aufschrift »Moldau – Europa 2030«. Seit 2024 laufen EU-Beitrittsverhandlungen.

Hinter der Grenze verändert sich die Szenerie: In der abtrünnigen Teilrepublik Transnistrien sind alle Schilder in kyrillischer Schrift verfasst, es wehen Russland-Fahnen, bewaffnete Soldaten stehen an Kontrollposten. Die Region ist auf finanzielle und militärische Unterstützung aus Russland angewiesen. Die militärische Präsenz stellt einen ständigen Spannungsfaktor zwischen der EU und Russland dar. Viele der 550 000 Einwohner*innen besitzen gleich drei Pässe: einen transnistrischen, einen moldauischen und einen russischen.

Transnistrien wird international nicht anerkannt und ist weitestgehend isoliert. Dabei verfügt der 200 Kilometer lange Landstrich am Fluss Dnister über alles, was einen Staat ausmacht: eine eigene Regierung, eine eigene Währung, ein eigenes Kfz-Kennzeichen. Nach dem Bürgerkrieg in Moldau 1992 wandte sich die Führung Transnistriens der untergegangenen Sowjetunion zu und bewahrte vieles von deren Erbe. Heute zieht die Region vor allem Besucher*innen an, die die Überbleibsel der Sowjet-Ära mit eigenen Augen erleben wollen.

Kurz vor Tiraspol, der Hauptstadt der Teilrepublik, taucht ein riesiger, hochmoderner Komplex auf: die Sportanlage des Fußballklubs Sheriff Tiraspol. Hier trägt der Rekordmeister Moldaus seine Heimspiele aus. Fast der gesamte Kader besteht aus ausländischen Profis. Dank erheblicher finanzieller Mittel des Sheriff-Konzerns gelingt es dem Klub, Talente aus aller Welt zu verpflichten. Spieler aus der Region sind selten in der Startelf vertreten. 2021 schaffte es Sheriff in die Champions League und besiegte dort niemand Geringeren als Real Madrid, und das auch noch im Bernabéu-Stadion.

Der namensgebende Sponsor von Sheriff Tiraspol ist ein Mischkonzern. Er ist im Stadtbild omnipräsent, weil beispielsweise etliche Supermärkte und Tankstellen zur Sheriff-Kette gehören. Der Konzern kontrolliert den größten Teil der Wirtschaft Transnistriens. Von Fernseh- und Radiosendern bis hin zu Schnapsfabriken und kleinen Lebensmittelläden: Konzernchef Viktor Gușan zieht die überall Fäden. Von einer »Sheriff-Oligarchie« sprechen einige.

Der Minibus fährt weiter nach Tiraspol. Auf dem Markt nahe dem Bahnhof verkaufen Händler*innen Steckblumen, Honig und eingelegtes Gemüse. Ganz in der Nähe erhebt sich das imposante Parlamentsgebäude. Davor steht eine granitene Lenin-Statue auf einem Sockel. Geschaffen wurde sie vom sowjetischen Bildhauer Nikolai Tomski. Älteren Besuchern mit DDR-Erfahrung könnte die Figur vertraut vorkommen. Die 1987 errichtete Statue basiert auf jenem Denkmal aus rotem Granit, das Tomski im Auftrag der Sowjetregierung für den damaligen Leninplatz in Ost-Berlin schuf. Von 1970 bis 1991 stand Tomskis 19 Meter hoher Koloss auf jenem Platz in Berlin-Friedrichshain, der heute Platz der Vereinten Nationen heißt.

Gegenüber der Tiraspoler Lenin-Statue steht ein alter Panzer der Roten Armee. Zwei junge Männer aus London posieren darauf. Sie wollten sich den letzten Außenposten der Sowjetunion in Europa anschauen, erzählen sie. Zwei Tage Transnistrien, dann geht es weiter nach Rumänien.

Ein Mann, der sich als Anton vorstellt, spricht die beiden an. Er spricht Englisch mit amerikanischem Akzent, scherzt viel und ist überzeugt: Er ist der beste Guide weit und breit. »Wenn ihr die Tour mit mir macht, seid ihr keine Touristen – ihr werdet Reisende sein.«

Er sei ein Kind der Stadt, sagt er, und führe seit zehn Jahren Besucher*innen durch seine Heimat. Die Gäste kämen aus aller Welt: Deutschland, den USA, China. Heute aber wird niemand eine Tour buchen. Dafür kaufen ihm die beiden Engländer ein paar Kühlschrankmagneten ab.

Als »Freiluftmuseum des Kommunismus« wird Tiraspol gerne bezeichnet.

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Der Tourismus in der Region ist auch ein Kampf gegen das Image. Die abtrünnige Region hat keinen besonders guten Ruf. Es kursieren Gerüchte über Überfälle, vereinzelt ist sogar von Entführungen die Rede. In zahlreichen Reise-Foren stellt sich immer wieder dieselbe Frage: »Ist eine Reise dorthin sicher?« Wie viele andere europäische Länder rät auch Deutschland von einem Besuch ab. Die politische Lage ist instabil – vor allem wegen des anhaltenden Krieges im Nachbarland Ukraine. Von Tiraspol bis zur ukrainischen Grenze sind es gerade einmal 15 Kilometer.

Als selbsternannte Republik birgt Transnistrien gewisse Risiken. Konsularische Hilfe durch die deutsche Botschaft in Chișinău ist im Ernstfall nicht möglich. Doch genau dieses Gefühl von Abenteuer scheint viele Touristen anzuziehen. Auf Youtube finden sich zahlreiche reißerische Reiseberichte von Menschen, die sich in das »Land, das es nicht gibt«, gewagt haben. Reiseführer Anton scherzt: »Ich wusste gar nicht, dass es hier gefährlich ist – bis mir das ein Ausländer erzählte.« Dabei wirkt Tiraspol ganz und gar nicht wie ein Chicago des Ostens. Die Stadt ist eher ruhig, fast verschlafen. Die Menschen begegnen Fremden freundlich, aber zurückhaltend. Es gibt viele Parks und am Stadtrand erstrecken sich riesige Plattenbausiedlungen.

Es ist wie eine Zeitreise in die Ära der UdSSR: monumentale Regierungsgebäude, Büsten von Lenin und Gagarin, rot gestrichene Spielplätze und Plakate an Schultüren, die an den Großen Vaterländischen Krieg erinnern. Als »Freiluftmuseum des Kommunismus« wird Tiraspol gerne bezeichnet. Doch auch die Spuren des Zusammenbruchs der Sowjetunion sind allgegenwärtig. Alte Ladas teilen sich die Straßen mit ausländischen Luxusautos. Neue Gebäude erinnern eher an die Architektur der Golfstaaten als an das Design der Sowjetzeit.

Unser letzter Stopp ist das Restaurant »Back in the USSR«. Dort werden Touristengruppen mit Gerichten aus der Sowjet-Ära bewirtet. Das Ambiente: kitschige Sowjet-Dekoration. Die Kellnerinnen tragen weiße Schürzchen und Servierhauben, an den Wänden hängen Porträts von Marx, Lenin und Stalin. Man sitzt an massiven Holzmöbeln im Stil der späten UdSSR, vor der Tür parkt ein ausrangierter Wolga. Auf der Speisekarte stehen Klassiker wie Borschtsch, Schaschlik und Pelmeni. Ein Spektakel nur für die Besucher aus dem Westen.

Mit der Marschrutka geht es zurück. An der Grenze sammelt ein Soldat wortlos Pässe und Einreisepapiere ein. Ein kurzer Blick in die Dokumente – alles in Ordnung. Dann werden die Ausweise zurückgegeben. Kurz darauf sind wir wieder in Moldau, zurück in der Gegenwart.

Tipps
  • Einreise: Die Republik Moldau erlaubt visafreie Einreise mit deutschem Reisepass für bis zu 90 Tage. Wegen des Krieges in der Ukraine wird vor Reisen bestimmte Regionen Moldaus gewarnt.
  • Anreise: Mit Flugzeug in die moldauische Hauptstadt Chișinău . Aus Deutschland fliegen Eurowings oder Lufthansa, mit Stopover auch mit LOT Polish Airlines, Austrian Airlines und Fly One. Im Land weiter nach Transnistrien mit Sammeltaxi oder Bus.
  • Allgemein: Reiseinfos des Fremdenverkehrsbüros der Republik Moldau. https://moldova.travel/en

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