- Reise
- Österreich
Blasmusik als Happening: 100 000 kommen in die Gemeinde Ort
Jedes Jahr Ende Juni findet in der kleinen österreichischen Gemeinde Ort das größte Blasmusikfestival der Welt statt
Im vergangenen Jahr war Marianne, eine junge Frau aus der bayerischen Kleinstadt Memmingen, alleine da. Damals hat es ihr so gut gefallen, dass sie unbedingt wiederkommen wollte. Und weil sie so geschwärmt hat, sind diesmal auch ihre Freundinnen dabei. Irgendwo im Getümmel hat sie »ihre Mädels« aber verloren. Marianne spielt Trompete im örtlichen Jugendorchester und braucht jetzt erst mal eine Pause. Nachdem sie zwei Konzerte am Stück angehört hat, sitzt sie am Ufer der Antiesen und hält die Füße ins Wasser.
An 361 Tagen im Jahr fließt der kleine, nur 42 Kilometer lange Fluss ungestört durch die 1369-Seelen Gemeinde. Einmal im Jahr, in der Woodstockwoche im Juni, wird er aber zur Riviera für die Festivalbesucher und seine winzige Stromschnelle zum Whirlpool. Dicht an dicht sitzen die Blasmusikfans im Wasser und mancher von ihnen bringt selbst dort seine Posaune, Tuba oder Trompete zum Einsatz. Wassermusik der anderen Art. Etwas Abkühlung bei über 30 Grad Celsius tut allen gut. Obwohl mancher sie auch innerlich mit alkoholischen Getränken vornimmt, geht alles erstaunlich gesittet zu.
Während des Festivals verwandelt sich Ort zu einer riesigen Zeltstadt. Die meisten Fans bringen ihr eigenes Zelt mit, wer es bequemer will, bucht sich in ein Glampingzelt ein. Wirklichen Luxus darf man auch hier nicht erwarten. Immerhin übernehmen andere den Zeltaufbau für einen und das Feldbett ersetzt die Matte am Boden. Die riesigen Ausmaße der Viertages-Großstadt erkennt man erst aus dem Riesenrad heraus. Aus den kleinen Drehgondeln schaut man von oben auf die Bühnen und das endlose Meer von Zelten herab, das am Horizont vom Grün der Bäume verschluckt wird.
Zuhören und mitspielen
Von Donnerstag bis Sonntag wird von frühmorgens bis spät in die Nacht von sieben Bühnen herab geblasen und gezupft, was das Zeug hält. Alpenblech, Innviertler Klarinettnmusi, Schallmooser Buam oder Zillertaler Tanzlmusig – die Namen sind Programm, trotz zum Teil ungewöhnlicher Schreibweisen. Neben traditionellen alpenländischen Blasmusikern spielen aber auch Jazzer und osteuropäische Hochzeitbands.
Selbst Rocker, sofern sie einen Bläsersatz im Ensemble haben, sind gern gesehen. Im vergangenen Jahr waren die Berliner Countryrocker von Boss Hoss der main act. Trotz einiger Bläser in der Band sind Boss Hoss gänzlich unverdächtig, was Blasmusik angeht. Ihr Frontman Alec Völkel schwärmte damals vor 25 000 tobenden Zuschauern: Er habe ein Humpta-Festival erwartet, und jetzt stehe er vor so einem Wahnsinnspublikum, lobte er, bevor er sich mit nacktem Oberkörper zum Stagediving ins Publikum stürzte.
Egal wer spielt, die Stimmung ist immer ausgelassen, die Laune perfekt. Aggressionen Fehlanzeige. Blasmusik scheint die Menschen friedlich zu stimmen. Die meisten Zuschauer beim Woodstock der Blasmusik sind selbst in einer Trachtenkapelle aktiv. Das Highlight ist deswegen das »Gesamtspiel« am Samstagvormittag. Dann nehmen 20 000 Amateurmusiker nach Musikinstrumenten geordnet vor der Hauptbühne Aufstellung und spielen in einem Megakonzert zusammen. Klarinetten, Saxophone und Querflöten ganz vorn, dahinter dann die schweren Kaliber Trompete, Tuba und Posaune. Dazwischen im Zentrum die Schlagwerker, die mit ihren Pauken, Trommeln und Schlagzeugen die Bläser bei der Taktfindung unterstützen.
Damit das musikalische Miteinander auch klappt, steht auf dem riesigen Festivalgelände ein halbes Dutzend Podeste, auf denen Dirigenten und Dirigentinnen den Taktstock schwingen. Am Sonntag sind die Kinder dran. Die Kleinen, die dann beim »Gesamtspielchen« auftreten, sichern sich und ihrer Familie sogar freien Eintritt zum Festival. Starke Männer gibt es im Beiprogramm, wenn im Timbersport die Schnellsten und Stärksten an Axt und Kettensäge gesucht werden.
Gute Laune am Fluss
Marianne badet ihre Füße immer noch im Wasser der Antiesen. Ihre Freundinnen sind noch nicht aufgetaucht, stattdessen sitzt ihre Mutter im Dirndl neben ihr. »Den Alten g’fallt die Blasmusik ja a’«, sagt Marianne in ihrem bayerischen Dialekt und lacht. Recht hat sie, denn das Woodstock der Blasmusik ist ein Festival für alle Generationen. Und dass Marianne zusammen mit ihrer Mama da ist, ist keineswegs ungewöhnlich.
- Info: www.woodstockderblasmusik.at
- Lage: Ort ist eine kleine Gemeinde im österreichischen Bundesland Oberösterreich, 30 Kilometer südlich von Passau.
- Anreise mit Bahn: Mit dem ICE bis Passau und von dort weiter mit dem Regionalexpress nach Andorf. Vom Bahnhof Andorf verkehrt ein Shuttlebus zum Festivalgelände (€ 6,-/Person). Abholung mit dem Taxi (Tel.+43 7766/29320, +43 7766/293 229).
- Anreise mit Bus: Während des Festivals besteht eine Sonderbusverbindung auf der Route (Fahrplaninfos auf der Webseite des Festivals): Pocking – Würding – Bad Füssing – Egglfing – Obernberg – Ort im Innkreis
Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Dank der Unterstützung unserer Community können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen
Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.