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Freie Gedanken ohne Zuhörer
120 Jahre nach seiner Gründung verliert der Freidenker-Verband an Bedeutung
Am Haus Nummer 41 in der Gneisenaustraße in Kreuzberg – zwischen den U-Bahnhöfen Gneisenaustraße und Südstern – erinnert eine unscheinbare Gedenktafel an Max Sievers, einen von den Nationalsozialisten ermordeten Freidenker und Sozialisten. An der Stelle, wo zurzeit ein Neubau steht, befand sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Geschäftsstelle des 1905 ursprünglich als marxistischer »Verband der Freidenker für Feuerbestattung« gegründeten Vereins. Häufig wird dies als die Geburtsstunde der organisierten Freidenkerbewegung in Deutschland angegeben. Es gab zwar schon gut 25 Jahre zuvor einen von Wilhelm Liebknecht gegründeten Freidenkerverband, aber dieser Verein für Feuerbestattung ist sicherlich bedeutsamer für die Geschichte der Freidenkerbewegung in Deutschland.
120 Jahre – ein runder Geburtstag, den viele Organisationen gerne mit einem Festakt feiern würden. Nicht so der Verband der Freidenker*innen. »Es ist in der Tat so, dass die Gründungsjubiläen der verschiedenen Vorläuferorganisationen bei uns keine überragende Rolle spielen, weil es nicht das eine Datum gibt, an dem unser Verband gegründet wurde«, erklärt Sebastian Bahlo, Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes. »Wenn wir Jubiläen begehen, dann selten durch große Festveranstaltungen, sondern eher publizistisch.« Er fährt fort mit den Worten: »So werden wir uns in einer der diesjährigen Ausgaben unseres Verbandsorgans ›Freidenker‹ dessen 100-jähriges Erscheinens und bei der Gelegenheit auch der Gründung der ›Freidenker für Feuerbestattung‹ im Jahr 1905 erinnern.«
Ursprünglich entstand die Freidenkerbewegung im Zuge der englischen Aufklärung und bezeichnete Menschen, die faktenbasiert zu Positionen kamen und sich nicht durch Vorgaben von vermeintlichen Autoritäten leiten lassen wollten. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierten sich in Deutschland erste Verbände – häufig im proletarischen Milieu unter Sozialist*innen, Anarchist*innen und Kommunist*innen. Die Bewegung konnte in ihren besten Zeiten auf 660 000 Mitglieder in Deutschland verweisen. Unter den Nationalsozialisten wurden die Organisationen der Freidenker verboten und ihre führenden Köpfe verfolgt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich unabhängig voneinander in Ost- und Westdeutschland Freidenkertraditionen. Ab 1949 wurde ein Freidenkerverband, der mittlerweile Humanistischer Verband Deutschland heißt, in der Bundesrepublik gegründet; in der DDR gab es bis zum Juni 1989 keine eigenen Freidenkerstrukturen. Zu den bekanntesten Mitgliedern des 1989 neugegründeten Freidenkerverbandes in der DDR gehörte auch kein geringerer als Erich Honecker. Im Jahr 1991 vereinigten sich Freidenkerverbände aus beiden deutschen Staaten wieder. Heutzutage kämpft der Verband wegen geringer Mitgliederzahlen mit gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit.
Dies hat unterschiedliche Gründe – sei es, dass andere humanistische Verbände die Themen der Freidenkerbewegung aufgreifen oder einzelne Forderungen der Freidenkerbewegung bereits umgesetzt wurden. »Mit dem fortschreitenden Bedeutungsverlust der Amtskirchen ist das Bedürfnis nach einem Gegenpol nicht mehr so groß. In Zeiten, in denen die Trauerkultur durch ökonomische Zwänge bedingt immer spärlicher wird, sind Feuerbestattungen, für die früher eigens Interessenverbände gegründet wurden, selbstverständlich«, erklärt Freidenker-Präsident Bahlo auf Anfrage. Dennoch ist er optimistisch: »Das müssen wir nicht bedauern. Aber das Bedürfnis für die Pflege und bewusste Weiterentwicklung der materialistischen Weltanschauung wird immer bestehen.« Die langsam wieder steigenden Mitgliederzahlen der Organisationen scheinen seinen Optimismus zu bestärken – auch wenn nach wie vor vor allem Ältere eintreten.
»Mit dem fortschreitenden Bedeutungsverlust der Amtskirchen ist das Bedürfnis nach einem Gegenpol nicht mehr so groß.«
Sebastian Bahlo
Deutscher Freidenker-Verband
Was hebt den Freidenkerverband aber von anderen sakulären Vereinigungen ab? Fragt man nach dem Alleinstellungsmerkmal, klingt Bahlo ganz traditionell: »Wir betrachten den Kapitalismus, insbesondere in seinem monopolkapitalistischen parasitären Stadium, als das grundlegende Hindernis für die Entstehung einer humanen und vernünftigen Gesellschafts- und Weltordnung. Die Kritik der klassischen Religionen ist für uns kein Selbstzweck und nicht einmal ein isolierter Zweck überhaupt, sondern sie muss als Teil des Kampfes für Frieden, Völkerfreundschaft, eine vernünftige und humane Wirtschaftsordnung und Aufklärung verstanden werden.«
Auch in anderen, ganz weltlichen Fragen positioniert sich der Verband kontrovers. So stellt man sich im Ukraine-Krieg auf die Seite Putins. In einem prominent auf der Freidenker-Webseite platzierten Beitrag nennt der ehemalige Stasi-Agent und derzeitige Russia-Today-Moderator Rainer Rupp den russischen Angriffskrieg eine »Sonderoperation« und feiert »russische Erfolge« an der Frontlinie. Auch zum Nahost-Konflikt positioniert man sich nicht sonderlich humanistisch: »Der 7. Oktober war ein Aufschrei, ein Widerstandsakt«, heißt es in einem Beitrag der Publizistin Evelyn Hecht-Galinski, die nach einem Gerichtsurteil als Antisemitin bezeichnet werden darf, auf der Webseite der Freidenker*innen.
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