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- Studie zu queerem Leben in Berlin
Berlin: Regenbogenfahne reicht nicht
Die Gewalt gegen trans, nichtbinäre und inter Personen nimmt zu – der Berliner Senat reagiere laut queerem Bündnis unzureichend
Luce deLire ist trans und engagiert sich beim Bündnis Selbstbestimmung Selbst Gemacht (SBSG). In der Hauptstadt nimmt die Gewalt gegen trans, inter und nichtbinäre (TIN*) Personen zu. Das berichtet nicht nur deLire im Namen des SBSG, sondern das zeigt auch die kürzlich veröffentlichte Camino-Studie zu transfeindlicher Gewalt und Gegenmaßnahmen in Berlin. Die Studie wurde von der Landesstelle für Gleichbehandlung und gegen Diskriminierung gefördert.
»Die Studie bietet als Lösungsansätze in den verschiedenen Bereichen, zum Beispiel Schule, Arbeitsplätze oder Gesundheitswesen, primär spezifische Handlungsanweisungen an, also mehr klare Regeln. Das ist aber nicht das Problem«, so deLire, die die Studie und die daraus resultierenden Pläne des schwarz-roten Senates kritisch sieht.
Gesundheit in der Krise
Das SBSG hatte sich im August 2023 gegründet, um dem damals noch als Entwurf vorliegenden Selbstbestimmungsgesetz einen eigenen Gesetzesentwurf entgegenzustellen. Bereits im Selbstbestimmungsgesetz waren Themen wie eine ausreichende Gesundheitsversorgung nicht abgedeckt. Der Senat will besonders auf einen Ausbau der Beratungsstellen setzen. Grundsätzlich sei Beratung auch im Gesundheitssystem wichtig, findet deLire. Sie merkt jedoch an, dass hier der Fokus weg von der Frage verschoben wird, für wen das Gesundheitssystem zugänglich ist: Dies seien in der Regel privilegierte, weiße Personen mit deutschem Pass.
Darüber hinaus kritisiert sie die allgemeinen Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen, insbesondere in der Pflege, wo Zeit und Leistungsdruck besonders hoch sind. Stress bei der Behandlung von trans Personen kann im Zweifelsfall zum Problem werden, wenn die Zeit fehlt, um individuell auf die Belange der Menschen einzugehen.
Eine Entschärfung der angespannten Situation im Gesundheitswesen würden laut deLire einerseits höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen bringen. Andererseits bräuchte es mehr Wissen zu Transgeschlechtlichkeit, Intergeschlechtlichkeit und Nichtbinärität. »Gleiches gilt auch für Rassifizierung«, merkt deLire an. »Und ich würde sagen, das kann man unter anderem über eine Diversifizierung der Belegschaft herbeiführen.«
Ein intersektionales Denken sei in einer Stadt wie Berlin besonders bedeutend. Berlin wird nicht nur innerhalb von Deutschland als Regenbogenhauptstadt gesehen. »Leute aus Ländern wie den USA und Brasilien oder Syrien kommen unter anderem wegen des Rufs Berlins als queere Metropole hierher.« So muss laut deLire auch ein Zusammendenken von Marginalisierung aufgrund von Einwanderung, Flucht und Rassifizierung mit TIN*-Feindlichkeit stattfinden.
Polizeigewalt gegen Queere
Bei der statistischen Erfassung transfeindlicher Straftaten sieht deLire ebenfalls Lücken, die mit mangelnder Sensibilisierung der Polizei für marginalisierte Gruppen einhergehen: »Die Hürde, sich überhaupt an die Polizei zu wenden, ist unter trans Personen sehr, sehr hoch.« Das habe unter anderem damit zu tun, wie sich die Polizei in Berlin verhalte. »Es ist ja bekannt, dass die Berliner Polizei gegenüber Queers und trans Menschen, aber auch offensichtlich auf propalästinensischen Demonstrationen, völlig unverhältnismäßig gewaltsam vorgeht.«
Dies zeige sich auch bei Demonstrationen wie kürzlich bei der Internationalistischen Queer Pride, wo es zu massiven Übergriffen auf die Demonstrant*innen seitens der Polizei kam – insbesondere im propalästinensischen Block. »Das zerstört natürlich konsequent das Vertrauen von Menschen in diese Institutionen«, sagt deLire und fordert ein weniger aggressives Vorgehen der Beamten.
Sie selbst habe noch nie einen transfeindlichen Übergriff zur Anzeige gebracht: »Also ich habe natürlich viel erlebt, aber gemeldet habe ich das noch nie. Ich würde nicht glauben, dass meine Interessen von der Polizei vertreten werden.«
Meldestellen statt Polizei
Eine Möglichkeit, die sie sich als Betroffene wünschen würde, wäre, die Anzeige von einer trans-spezifischen Beratungsstelle aufnehmen zu lassen. Hier wäre nicht nur das Personal im Umgang mit der Situation geschult, auch die korrekte statistische Erfassung wäre hier gewährleistet. Was Meldestellen wie das Berliner Register, Maneo oder LesMigras bereits bieten, ist eine statistische Erfassung von Vorfällen durch ein Online-Formular, ohne die Tat anzeigen zu müssen.
Die Berliner Registerstellen haben im vergangenen Jahr mit 7720 einen neuen Höchststand rechtsextremer und diskriminierender Vorfälle verzeichnet. Hinzu kommen faschistische Gegenproteste und Übergriffe auf verschiedenen Christopher Street Days (CSD), beispielsweise 2024 im sächsischen Bautzen und dieses Jahr im brandenburgischen Bad Freienwalde, die für Besorgnis in der queeren Community sorgen. Doch weder in der Studie noch in den Gegenmaßnahmen des Berliner Senats kommt der Aspekt der rechten Bedrohung zur Sprache.
Kürzungspolitik trifft Jugendliche
Bedeutend für die Entwicklung der eigenen Identität ist das Jugendalter. Der Senat thematisiert in seiner Pressemitteilung zur Studie die Schulen zwar als Orte, wo viele Kinder und Jugendliche ihre ersten Diskriminierungs- und Mobbingerfahrungen machen. Doch als Lösungsstrategie werden Regulierungen und spezifische Schulungen von schulischen Kontaktpersonen für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt angeboten – eine flächendeckende Sensibilisierung der gesamten Lehrkörperschaft ist nicht vorgesehen.
Zudem fehlt der Schutz von Freizeiteinrichtungen für queere Kinder und Jugendliche. Gerade die queeren Jugendzentren fallen der Kürzungspolitik von Schwarz-Rot zum Opfer. Kjell Yann Seeger ist hauptamtliche Projektkoordination vom Bildungsprojekt »queer@school«. »Die Studie zeigt einmal mehr, wie wichtig die Stärkung queerer Jugend- und Bildungsarbeit ist«, sagt Seeger zu »nd«.
Queere und TIN*-Jugendliche seien besonders schutzbedürftig, denn sie erleben Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt oft schon in Schule, Familie oder im sozialen Umfeld, so Seeger. »Gerade deshalb sind sichere Orte unverzichtbar, an denen sie Unterstützung, Sichtbarkeit und Empowerment erfahren können.«
Seeger arbeitet in einem Projekt, in dem sich Jugendliche gegenseitig bilden. Doch auch dieses queere Projekt ist von Kürzungen bedroht: »Wir sind irritiert und verärgert über die aktuellen Kürzungen und geplanten Streichungen unserer Angebote. Die Versprechen der Koalition aus CDU und SPD, Berlin sicherer für queere, trans, inter und nichtbinäre Personen zu machen, müssen sich in konkreten politischen Entscheidungen widerspiegeln. Es reicht nicht, bei Symbolpolitik wie dem Hissen der Regenbogenfahne oder einem Besuch des CSD stehenzubleiben«, sagt Seeger.
Mit den Kürzungen bei Bildungs- und Freizeitprojekten nimmt der Senat Kindern und Jugendlichen einen Schutzraum, den Schulen auch durch Reformierung nicht bieten können. »Queere Jugendzentren und Bildungsprojekte brauchen eine verlässliche Finanzierung und strukturelle Absicherung, damit Schutzräume erhalten bleiben und präventive Bildungsarbeit ihre volle Wirkung entfalten kann. Wer queere Jugendangebote kürzt, spart nicht, sondern riskiert die Sicherheit junger Menschen«, so Seeger.
Das Problem an der Wurzel greifen
Während der Senat bei den Schulen auf Regulierung baut, setzt er zum Schutz von TIN*-Personen im Berufsleben auf das Prinzip Freiwilligkeit. Fortbildungsmöglichkeiten zu geschlechtlicher Vielfalt in der Arbeitswelt sollen Betroffenen von Mobbing, Misgendering oder strukturellen Ausschlüssen hier Schutz bieten. Doch Luce deLire fragt sich, welche Personen solche Angebote überhaupt wahrnehmen. »Das sind ja bestimmt nicht die Leute, die bewusst transfeindlich agieren«, so die Aktivistin. Stattdessen schlägt deLire vor, dass sich der Senat dafür einsetzt, deutlich mehr trans und nichtbinäre Personen sowie People of Color und Schwarze Personen einzustellen.
Über die Maßnahmen des Berliner Senats hinaus sieht deLire strukturellen Handlungsbedarf in existenziellen Bereichen – unabhängig von der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität. Die strukturellen Maßnahmen betreffen insbesondere den Wohnungsmarkt und den Zugang zu Therapieplätzen: »Ich glaube, wenn man etwas machen will, dann muss man einerseits die Enteignung großer Wohnungsgesellschaften vorantreiben, denn viele trans und nichtbinäre Menschen leiden unter so hohen Wohnungspreisen in Berlin«, sagt deLire. Außerdem müsse das Problem der therapeutischen Gesundheitsversorgung in Berlin gelöst werden, denn queere Menschen litten vermehrt unter Diskriminierung und Ausgrenzung und hätten deshalb einen erhöhten Bedarf an Therapie.
Für Luce deLire braucht es zum einen materielle Verbesserungen, um queeres Leben zu schützen. Sie meint zudem, dass die Antwort des Senats, auf queerfeindliche Gewalt mit neuen Regeln zu reagieren, rechte Propaganda stärke: »Mein Eindruck ist, dass das ein Problem verstärkt, nämlich die Verschwörungserzählung, dass es so eine queere, pinke Diktatur gäbe, die alle dazu zwingen möchte, sich jetzt irgendwie diesen Sachen zu unterwerfen.«
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