»Als wäre ich im Berlin des Jahres 1933«

Der gesellschaftlich engagierte Mediziner L. Lewis Wall ist besorgt über den Verlust von humanitären Werten in den USA

  • Interview: Melanie M. Klimmer
  • Lesedauer: 8 Min.
Bundesbeamte, darunter Angehörige der berüchtigten Einwanderungs- und Zollbehörde ICE, stehen vor einem Einwanderungsgericht in New York.
Bundesbeamte, darunter Angehörige der berüchtigten Einwanderungs- und Zollbehörde ICE, stehen vor einem Einwanderungsgericht in New York.

In Europa zeigen sich viele Menschen mit Blick auf die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten sehr besorgt. Zuletzt hatten einige Expertinnen und Experten vor der Gefahr eines Bürgerkriegs gewarnt. Wie nah kommen die USA einem solchen Szenario?

Ich rechne damit, dass die politische Gewalt, insbesondere von rechts, in den USA zunehmen wird. Kürzlich erschoss ein maskierter Schütze die demokratische Parlamentssprecherin von Minnesota und ihren Ehemann. Der Täter hatte sich als Polizist ausgegeben. Er schoss auf einen weiteren Abgeordneten des Bundesstaates und dessen Frau in deren Haus. Sie haben den Mordversuch glücklicherweise überlebt. Der mutmaßliche Schütze wurde inzwischen gefasst. Er ist ein rechtsgerichteter Trump-Unterstützer und christlicher Faschist. Wir leben in beunruhigenden Zeiten.

Gibt es einen Aufschrei? Oder überwiegen Hilflosigkeit und Angst?

Die Initiative No Kings (Keine Könige) richtet sich gegen Trumps autoritäre, geradezu monarchistische Ambitionen. Am 14. Juni gingen über fünf Millionen Menschen in allen Bundesstaaten auf die Straße. Trumps Militärparade in Washington D.C. entpuppte sich als Reinfall. Die Parade sollte den 250. Jahrestag der US-Armee ehren und fiel zufällig auf seinen Geburtstag. Viele der Tribünenplätze waren leer. Wie zahlreiche Fotos zeigen, war er selbst gelangweilt von dieser ganzen Vorstellung. Letztlich misslang die Zurschaustellung militärischer Stärke im nordkoreanischen Stil. Das war ermutigend. Aber dennoch bleibt viel zu tun.

Was bedroht die Stabilität im Land am stärksten?

Trump bleibt bei Republikanern beliebt. Seine Politik stößt jedoch mehrheitlich auf Ablehnung. Die Polarisierung ist erheblich. Gleichzeitig versucht der Präsident, ein großes Haushaltsgesetz durch den Kongress zu bringen, das die Staatsverschuldung astronomisch in die Höhe treiben wird – Billionen von Dollar im nächsten Jahrzehnt! Parallel kürzt er die Steuern für seine Oligarchen-Kumpel und reduziert Medicaid, die Krankenversicherung für die Armen. Das beunruhigt mich sehr. Die Parallelen zu den Anfängen des deutschen Nationalsozialismus in den 30er Jahren sind alarmierend.

Welche ähnlichen Entwicklungen sehen sie?

Da ist der Versuch, eine mystische Vergangenheit zu glorifizieren. »Make America Great Again«, um Amerika wieder groß zu machen; die Stigmatisierung von Minderheiten, die für alle Probleme des Landes verantwortlich gemacht werden; die Förderung einer Agenda der vollständigen wirtschaftlichen Autarkie; die Übernahme der Theorie einer »Einheitlichen Exekutive«, einschließlich einer Säuberung unter den Spitzengenerälen; der Angriff auf Universitäten und die freie Presse; die Unterdrückung von Dissidentinnen und Dissidenten mit militärischer Gewalt; Entführungen von Menschen auf offener Straße durch bewaffnete, maskierte Staatsbedienstete, nur weil sie politischen Widerstand zum Ausdruck gebracht haben. Oder auch die Korruption, mit der Trump seine persönlichen Geschäfte und Gewinne mit offiziellen Regierungsangelegenheiten vermischt. Es fühlt sich an, als wäre ich im Berlin des Jahres 1933 und nicht in St. Louis, Missouri, 2025.

Muss noch immer eine Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner davon überzeugt werden, dass eine erhebliche Bedrohung für die Demokratie besteht?

Ja. Das Land ist gespalten. Aber es gibt ein wachsendes Verständnis dafür, dass wir auf einen Autoritarismus zusteuern. Die steigende Zahl von Menschen, die an Protesten wie der No Kings Rally teilnehmen, ist ein Zeichen dafür.

Warum unterstützen amerikanische Institutionen wie die Einwanderungs- und Zollbehörde ICE Trumps Politik?

Die Schwierigkeiten, mit denen wir in den USA konfrontiert sind, entsprechen denselben, mit denen das Deutschland der 30er Jahren konfrontiert war. Die ICE verwandelt sich zusehends in eine »amerikanische Gestapo«, die mit maskierten, nicht identifizierbaren Männern Menschen auf offener Straße entführt und ohne ordnungsgemäße Gerichtsverfahren in Haftanstalten deportiert.

Wir sehen Bilder von teils gewaltsamen Protesten, unter anderem in Los Angeles. Wie reagiert die breite Öffentlichkeit darauf?

Sie steht noch immer unter dem Eindruck, dass hier nur die »hartgesottenen Kriminellen« mitgenommen würden. Das ist jedoch nicht der Fall! Wir wissen, dass sogar einige US-Bürgerinnen und -Bürger auf diese Weise gekidnappt wurden, genauso Ausländer, die sich mit einer gerichtlichen Verfügung legal in den USA aufhalten. Die Gerichte wehren sich, aber die Verfahren kommen nur schleppend voran.

Interview

L. Lewis Wall ist außerordentlicher Professor für medizinische Anthropologie sowie für Geburtshilfe und Gynäkologie am College of Arts and Sciences der Washington Univesity in St. Louis, Missouri. Kontinuierlich beobachtet er die US-amerikanische und internationale Politik – weil davon auch sein umfassendes gesellschaftliches Engagement beeinflusst wird: Er gründete die gemeinnützigen Stiftungen »Worldwide Fistula Fund« (gegen Geburtsfisteln), »The Fewsi Foundation« (gegen die massenhafte Unter- und Mangelernährung von Kindern in der äthiopischen Provinz Tigray) und »Dignity Period« in Äthiopien, die Mädchen und junge Frauen bei Fragen der Menstruation berät und ihnen Hygieneprodukte zur Verfügung stellt.

Welche Rolle spielt der Senat? Kann er diese Entwicklungen nicht stoppen?

Ein großes Problem bereitet tatsächlich der Senat. Laut Verfassung ist er zuständig dafür, den für das Kabinett nominierten Personen »Rat und Zustimmung« zu erteilen. Nun hat der Senat Trumps Nominierungen abgesegnet – jedes Mal mit nur sehr knapper Zustimmung. Wichtige Institutionen werden jetzt von inkompetenten Trump-Handlangern geführt. So das Justizministerium unter der Leitung von Generalstaatsanwältin Pamela Jo Bondi.

Sie hatte 2013 ein Betrugsverfahren gegen Trump eingestellt.

Inzwischen wurde die Mehrheit der Anwälte der Bürgerrechtsabteilung gefeuert oder sie traten aus Protest zurück, sodass juristische Handlanger an deren Stelle traten. Dasselbe geschah mit dem Federal Bureau of Investigation (FBI), dem National Intelligence Service (Nationaler US-Geheimdienst), dem Heimatschutzministerium und so weiter – auf ganzer Linie. Es ist alarmierend! All diese Personen interpretieren die Um- und Durchsetzung von Gesetzen durch die Brille der Trump’schen Ideologie und brechen damit vollkommen mit der Tradition der politischen Steuerung in diesen Institutionen. Es ist schwer, dagegen anzugehen.

Wie werden diese Handlungen offiziell gerechtfertigt?

Viele dieser Nominierungen und die damit einhergehenden, politischen Veränderungen werden unter falscher Flagge durchgeführt, nämlich unter der des Kampfes gegen »Antisemitismus« und »Rassendiskriminierung«.

Rassendiskriminierung?

Ja. In Wirklichkeit handelt es sich um reine Nebelkerzen, die nur dazu dienen, den Abbau sämtlicher Programme zu verschleiern, die in der Vergangenheit das Ziel hatten, rassistische Missstände zu korrigieren und die Beteiligung von Minderheiten an der Regierung zu verbessern. Der Präsident sagt, dass derartige Programme Weiße aufgrund ihrer Rasse oder Männer aufgrund ihres Geschlechts diskriminieren. Er hat die Regierung systematisch gesäubert, um leistungsstarke Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten loszuwerden – mit der Behauptung, sie seien aufgrund anti-weißer Rassendiskriminierung eingestellt worden.

Was will Trump damit bezwecken?

Er will eine Regierung, die von reinrassig weißen Menschen, vorzugsweise Männer, geführt wird. Angehörige ethnischer Minderheiten, zum Beispiel Kashyap Pramod Patel (Leiter des FBI) oder Harmeet Kaur Dhillon (Leiterin der Bürgerrechtsabteilung des Justizministeriums), wird er akzeptieren, solange sie ihm unterwürfig genug sind. Beide sind rechtsextremistisch und haben asiatische Wurzeln.

Verändern sich auch die amerikanischen Werte?

Die Zerstörung von der USAID (Behörde für Entwicklungszusammenarbeit), die Milliarden-Streichung von Zuschüssen für die medizinische und die wissenschaftliche Forschung, der Angriff auf Universitäten ohne ordnungsgemäße Verfahren – all das sind tiefgreifende Ereignisse, die noch Jahrzehnte nachhallen werden. Um es knapp zu sagen: Der amerikanische Einfluss in der Welt sinkt wie ein Stein im Wasser und alles nur, um das Ego eines rachsüchtigen, narzisstischen Soziopathen zu besänftigen. Ich weine um mein Land.

Was sollten die Europäerinnen und Europäer tun, um ihre eigene Demokratie gegen die extreme Rechte zu schützen?

Es schmerzt mich, dies sagen zu müssen, da ich immer an starke Beziehungen zwischen den USA und Europa geglaubt habe: Die Europäerinnen und Europäer sollten sich wappnen, um politischer und militärischer Aggression zu widerstehen. Aus nicht zu erschließenden Gründen, wahrscheinlich aber aus persönlicher, psychologischer Unsicherheit und dem Wunsch heraus, ein »harter Kerl« zu sein, will Trump mit Wladimir Putin befreundet sein.

Was könnte im schlimmsten Fall passieren?

Man muss auf den Zerfall der Nato in ihrer jetzigen Form vorbereitet sein. Sie könnte die Trump-Jahre möglicherweise nicht überstehen. Trump ist fasziniert vom imperialistischen, amerikanischen Präsidenten William McKinley, der Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls hohe Zölle propagierte. Das war zu einer Zeit, als die USA gegen Spanien Krieg führten, die Philippinen eroberten und die hawaiianische Monarchie stürzten. Ich halte Trumps erklärte Absicht, Kanada zum 51. Bundesstaat Amerikas zu machen, für völligen Unsinn, aber seinen Wunsch, Grönland einzunehmen, für ernstzunehmend. Aus militärischer Sicht wäre es für die USA ein Leichtes, Grönland zu annektieren, es würde aber die Nato und unsere Beziehungen zum Rest der Welt zerstören. Ich halte das zwar für unwahrscheinlich, aber sicher nicht für unmöglich.

Blicken wir nach vorne: Die amerikanische Demokratie ist unter Druck geraten. Wird sie daran zerbrechen oder doch eher wachsen und an neuer Stärke gewinnen?

Wir können nur hoffen, dass das derzeitige Chaos treibende Kraft für eine Bewegung hin zu einem stärkeren, integrativeren, empathischeren und wohltätigen Land sein wird, aber das ist keinesfalls selbstverständlich. Trump versucht, alle Organisationen, Bewegungen oder Institutionen zu zerstören, die sich ihm widersetzen. In den nächsten Jahren wird es einen regelrechten Kampf um diese Werte geben.

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