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Überarbeitung in Japan: Da kann nur Buddha helfen!
In Japan arbeiten Menschen nicht selten 80 Stunden in der Woche. Nun wird dem Problem der Überarbeitung endlich begegnet
Mayumi Yamashita findet, so viel arbeite sie gar nicht: »Ich glaube, diese Vorstellung von Japan als einem Land, wo die Menschen nicht aufhören zu arbeiten, ist allmählich überholt. Die stammt aus den 90er Jahren, als die Wirtschaft gerade noch boomte und alle so schnell wie möglich Geld verdienen wollten.« Heute sei das etwas anders. Yamashita ist Anfang 40, hat schon für verschiedene Unternehmen gearbeitet und ist in der Marketingabteilung eines ausländischen Konzerns in Tokio beschäftigt.
Und da sei es ganz entspannt. Denn anders als bei vorigen Arbeitgebern müsse sie hier pro Woche »nur« um die 60 Stunden für den Job aufwenden. Außerdem hat sie um die 20 Urlaubstage im Jahr. Und mittlerweile nehme sie auch immerhin die Mehrzahl davon wahr. Das war nicht immer so, betont die Tokioterin: »Ich achte bei der Jobwahl heute darauf, dass es nicht zu wenige Urlaubstage gibt und dass man sie auch wirklich nehmen kann. Komplett alle nehme ich zwar leider nicht wahr, weil immer so viel zu tun ist. Aber möglichst viel Flexibilität ist schon wichtig.«
Mit ihrer Einschätzung davon, wie viel man arbeiten und entspannen sollte, ist Mayumi Yamashita typisch für ihr Land: Trotz der langen Arbeitswochen klagt sie nicht. Zum Vergleich: In Deutschland arbeiten die Menschen im Durchschnitt nicht nur deutlich weniger, sondern nehmen meist auch alle ihre in der Regel 25 bis 30 Urlaubstage pro Jahr wahr. Die in Japan bis heute wesentlich größeren Arbeitsumfänge haben Soziologinnen auch schon durch religiöse Einflüsse erklärt.
Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.
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So schreibt Kazunobu Horiuchi, Professor und Religionsexperte an der Reitaku-Universität in Kashiwa, in einem Aufsatz über den seit 1500 Jahren in Japan verbreiteten Buddhismus: »Es wird oft gesagt, dass der Gebrauch natürlicher Dinge das Mitgefühl des Buddha ist. Natürliche Dinge hätten kein Mitgefühl, aber wie mitfühlende Menschen besitzen sie die Fähigkeit, altruistisch zu handeln und dadurch Buddhaschaft zu erlangen.« So würden Güter zu einem Hilfsmittel, mit dem man Menschen helfen könne.
Daraus folge, dass man sich in seinen Tätigkeiten vertiefen und so Erleuchtung erlangen könne. Im Kapitalismus nutzt dieser Gedanke für hohe Arbeitsproduktivität. Wobei Vincent Lesch, Japanologe an der Universität Heidelberg, in der hohen japanischen Arbeitsbereitschaft ein Gemisch verschiedener Faktoren sieht: »Ein direktes Pendant zum protestantischen Arbeitsethos, wie man es etwa aus Norddeutschland kennt, gibt es in Japan so nicht.«
Zwar ließen sich Einflüsse konfuzianischen Denkens – wie etwa Loyalität gegenüber der Gruppe, Pflichtgefühl und Hierarchie – nicht vollkommen von der Hand weisen. Aber in der Realität beruhe die japanische Arbeitsdisziplin heute vielmehr auf kulturellen Normen, sozialen Zwängen und pragmatischen Überlegungen, so Lesch: »Wer sich besonders engagiert zeigt, gilt als loyal und verlässlich – was nicht nur für Beförderungen wichtig ist, sondern auch für die soziale Anerkennung im Team.«
Die kollektive Fokussierung auf das Arbeiten – auch wenn Mayumi Yamashita ihren Job gar nicht so anstrengend findet – hat gesundheitliche Folgen. Pro Jahr erlitten im vergangenen Jahrzehnt Hunderte Personen psychische Krankheiten, für die im Nachhinein Erschöpfung durch Arbeit als Grund anerkannt wurde. 80 Überstunden im Monat sind nicht selten. Die Regierung ist alarmiert, reguliert nun allzu hohe Überstundenzahlen und fordert von Arbeitgebern, dass sie Angestellten beim Aufbrauchen der Urlaubstage unterstützen.
Dabei gibt es seit einigen Jahren einen anderen Ansatz, dem Problem zu begegnen. In Osaka führte kurz vor der Pandemie ein buddhistischer Tempel erstmals eine Zeremonie durch, die Menschen zum Aufbrauchen ihrer Urlaubstage auffordert. Dabei liest ein Priester die Namen der Teilnehmenden vor und erklärt, wie viele Urlaubstage diese haben verstreichen lassen. Und dass dies den Urlaubstagen – die doch selbst eine Seele hätten – wehtue. Um diese zu respektieren, müsse man sie alle wahrnehmen.
Priester Takurou Sayama hat gegenüber der japanischen Nachrichtenagentur Kyodo den Gedanken dahinter erklärt: »Ich habe selbst zehn Jahre als Angestellter in einem Unternehmen gearbeitet. Da konnte ich meine Urlaubstage nie ganz in Anspruch nehmen.« Als er dann angefragt wurde, eine Zeremonie für all die ungenutzten Urlaubstage der Leute durchzuführen, habe er das gerne angenommen: »Um diesem nicht genutzten Urlaub eine Art Würdigung zu verleihen. So hoffe ich, einigen Menschen helfen zu können, mehr Urlaub zu nehmen.«
Wobei die Idee für die Zeremonie nicht aus einem Tempel stammt, sondern von der Marketingagentur Ningen aus Osaka. Die wiederum war von einer Jobplattform beauftragt worden, die Daten dazu erhoben hat, wie sehr viele Arbeitskräfte nach Work-Life-Balance suchen. Shiboru Yamane, der das Konzept bei Ningen entworfen hat, sagt: »Dieses Thema mit Buddhismus anzugehen, fanden wir witzig. Denn mit Buddhismus – aber auch mit Shinto oder den Idealen des Konfuzianismus – können ja alle Menschen in Japan etwas anfangen. So eine Zeremonie, dachten wir daher, ergibt für alle Sinn.«
Denn in der multireligiös geprägten, aber kaum streng religiösen japanischen Gesellschaft haben diverse Rituale einen religiösen Hintergrund. Beerdigungen werden meist buddhistisch begangen, Hochzeiten oder Geburten traditionell der japanischen Urreligion Shinto folgend. Wobei der Gedanke, dass man auch in Gegenständen oder immateriellen Konzepten wie Ideen und Rechtsansprüchen eine Seele erkennt, eigentlich auch dem Shinto entstammt.
Dass die Zeremonie dennoch Eingang in einen buddhistischen Tempel erhalten hat, sei aber zweitrangig, grinst Shiboru Yamane von der Werbeagentur Ningen: »In meinem Kopf gehören Buddhismus und Shinto zusammen. Tempel und Schreine befinden sich meistens nebeneinander. Insofern ist das in Japan gar kein Problem.« Jedenfalls passt die Idee einer im Tempel durchgeführten Zeremonie, um soziale Probleme anzusprechen, zur japanischen Kultur, findet Vincent Lesch.
»Gerade weil Religion in Japan weniger mit persönlichem Glauben zu tun hat, sondern stark in Alltagsrituale und soziale Praktiken eingebettet ist.« Wenn nun also versucht werde, ein religiös eingefärbtes Event zu nutzen, um etwa zum Urlaub zu motivieren, dann sei das kein Ausdruck spiritueller Erneuerung, sondern eine Form der sozialen Rahmung: »Es wird eine kulturell akzeptierte, traditionsnahe Form gewählt, um Verhaltensänderungen anzustoßen.«
Landesweit viele Nachahmer hat die buddhistische Zeremonie noch nicht gefunden. Aber wer davon hört, ist begeistert. Zeitungen diskutieren darüber. Und dass das Thema »Erschöpfung durch Arbeit« ein ernstes ist, daran zweifelt in Japan niemand mehr.
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