Ecuador: Unter der Kontrolle von Banden

Rückzug des Staates verschafft organisierter Kriminalität freie Bahn in marginalisierten Vierteln

  • Valeria Bajaña Bilbao
  • Lesedauer: 4 Min.
Soldaten nehmen in Guayaquil einen Mann fest, nachdem am 7. März 2025 mindestens 22 Menschen bei Bandenkämpfen ermordet wurden.
Soldaten nehmen in Guayaquil einen Mann fest, nachdem am 7. März 2025 mindestens 22 Menschen bei Bandenkämpfen ermordet wurden.

Barrios muertos – so nennt Evandro Moreno jene abgehängten Viertel im Nordwesten der Hafenstadt Guayaquil, die längst der Gewalt krimineller Banden überlassen wurden. Der ecuadorianische Soziologe ist selbst in einem dieser Viertel aufgewachsen – Teil eines staatlichen Umsiedlungsprogramms, das ursprünglich als Sozialwohnprojekt gedacht war und heute zu den gefährlichsten Gegenden der Stadt zählt. Der Staat hat sich zurückgezogen, die Straßen wirken wie ausgestorben – und wer kann, flieht.

Heute engagiert sich Moreno mit der Organisation Movimiento Barrios en Lucha (MBL) genau dort: in jenen Vierteln, in denen staatliche Präsenz längst fehlt. Schon vor sechs Jahren, erzählt Moreno, begannen sich staatliche Institutionen systematisch aus den gefährdetsten Vierteln zurückzuziehen – Kindertagesstätten, Gesundheitszentren, selbst die kommunale Polizei verschwanden nach und nach. Zurück blieben Unsicherheit, Perspektivlosigkeit – und die Menschen selbst.

Minderjährige werden instrumentalisiert

Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche aus marginalisierten Stadtteilen. Wer jung ist und nicht selbst zum Opfer wird, läuft Gefahr, von Drogenbanden rekrutiert zu werden – als Kuriere, Boten oder sogar für Auftragsmorde. Auch die sexuelle Ausbeutung junger Mädchen und Frauen nimmt zu. Viele Eltern fliehen, um ihre Kinder davor zu schützen. Das Comité Permanente de Derechos Humanos (CDH) warnt vor der zunehmenden Instrumentalisierung Minderjähriger durch kriminelle Gruppen.

»Die Rekrutierung erfolgt nicht nur durch Zwang, sondern auch im Rahmen einer Überlebensökonomie. Die Jugendlichen sind nicht das Problem – sie sind ein Symptom eines Staates, der sie im Stich gelassen hat. Das organisierte Verbrechen erkennt und nutzt institutionelle Lücken sehr genau«, sagt Billy Navarrete, Sprecher des CDH.

Dort, wo dringend Auswege aus der Gewaltspirale gebraucht werden, organisiert Moreno mit dem MBL kulturelle und handwerkliche Projekte – darunter die Batucada Popular, ein Trommelensemble, das Jugendlichen Raum für Ausdruck und Gemeinschaft bietet. Oder selbstverwaltete Textilwerkstätten, die alleinerziehenden Frauen ein eigenes Einkommen ermöglichen. So entstehen Orte des Widerstands – für Menschen, die die Gewalt nicht einfach hinnehmen wollen.

Doch selbst diese Projekte stoßen an die Grenzen einer Realität, in der Gewalt das Leben bestimmt. Zuletzt gerieten zwei Mitglieder der Batucada, Mikel Mesías Gutiérrez (13) und Dylan Saa (13), in ein Schussgefecht rivalisierender Banden. In Flor de Bastión, dem Ort des Geschehens, ist das für viele Schwarze Jugendliche kein Ausnahmefall, sondern bittere Alltagserfahrung. Wie extrem die Gewalt ist, zeigt sich exemplarisch in diesem Viertel, einem der Brennpunkte in Guayaquil: Allein im Mai 2025 wurden dort innerhalb weniger Tage über 30 Menschen bei Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Banden getötet.

Leben zwischen den Fronten

Junge Schwarze Männer leben in diesen Vierteln zwischen zwei Fronten, erklärt Moreno: Auf der einen Seite bewaffnete Banden, auf der anderen ein Sicherheitsapparat, der nicht schützt, sondern mit willkürlicher Gewalt reagiert. Polizei und Militär setzen auf Kontrolle statt auf Schutz – rassistische Razzien, Schikanen und Übergriffe gehören zum täglichen Risiko.

»Sobald irgendwo in der Stadt jemand ermordet oder entführt wird, wissen wir: Sie kommen zu uns. Und sie kommen nicht, um zu helfen – sondern um Schuldige zu finden.«

Seit seinem Amtsantritt setzt Präsident Daniel Noboa zunehmend auf repressive Maßnahmen – legitimiert durch das Versprechen, die organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Am 25. Juni 2024 verschärfte er die Strafen für minderjährige Straftäter drastisch: Bei schweren Delikten mit Bezug zur organisierten Kriminalität drohen Jugendlichen nun bis zu 15 Jahre Haft. Sie können wie Erwachsene verurteilt werden; sozialpädagogische Maßnahmen entfallen, die Untersuchungshaft wurde verlängert. Die jüngsten Gesetzesverschärfungen wurden inzwischen juristisch angefochten.

Menschenrechtsorganisationen wie das CDH und Human Rights Watch kritisieren die zunehmende Militarisierung als reine Repression, die die Ursachen urbaner Gewalt ignoriert. Eine wirksame Strategie zur Beendigung der Rekrutierung und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen wird die Situation in den Vierteln ohne Beteiligung der Betroffenen vor Ort nicht langfristig verändern, warnt CDH-Sprecher Billy Navarrete.

Das Phänomen von Gewalt und Vernachlässigung breitet sich in Ecuador immer weiter aus: Allein 2024 wurden laut Norwegischem Flüchtlingsrat 101 000 Fälle von Binnenvertreibung durch Konflikte und kriminelle Gewalt registriert. Seit drei Jahren ist das Land aufgrund der Schwächung großer Kartelle in Mexiko und Kolumbien zur Transit- und Drehscheibe des internationalen Kokainhandels geworden, was brutale Kämpfe zwischen kriminellen Banden um Territorien und Einfluss ausgelöst hat.

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