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Eine Hommage an ermordete Freunde: Auch sie hatten Träume

Tödlicher Konflikt und Menschenrechtsverbrechen im Kongo: Eine persönliche Erinnerung an sechs Schicksale

  • Jubilé Kasay
  • Lesedauer: 10 Min.
Tausende Zivilisten wurden in Ostkongo von der Bewegung 23. März (M23) getötet. Transport von Leichen in der Stadt Goma im Februar 2025
Tausende Zivilisten wurden in Ostkongo von der Bewegung 23. März (M23) getötet. Transport von Leichen in der Stadt Goma im Februar 2025

Die M23-Miliz behauptet immer wieder, dass sie nur gegen Soldaten der kongolesischen Armee vorgehe und keine Zivilisten töte. Aber ich weiß ebenso gut wie jeder andere in Goma, dass das nicht stimmt. Die Menschen, die ich sterben sah, waren weder bewaffnet noch eine Bedrohung für die M23-Miliz. Sie hatten Familien, Pläne, Träume. Ich habe ihre Leichen auf den Straßen liegen sehen, habe einige von ihnen zur Leichenhalle begleitet. Selbst kleine Kinder, manche nicht älter als zwei Jahre, mussten mit ansehen, wie Mitarbeitende des Roten Kreuzes leblose Körper wegtransportierten, einige erst, nachdem sie schon zwei oder drei Tage lang auf der Straße gelegen hatten. Hinter den Zahlen über die Opfer des Krieges verbergen sich Menschen wie die, von denen ich hier erzähle. Es sind Menschen, die ich gekannt und geliebt habe, die wie ich in meiner Heimatstadt Goma aufgewachsen sind.

Dieser Text ist eine Hommage. Ein Akt der Erinnerung. Und ein Ruf nach Gerechtigkeit.

Jubilé Kasay


Die M23-Miliz ist die mächtigste von mehr als hundert Rebellengruppen im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Sie wird vom benachbarten Ruanda unterstützt. In den vergangenen Monaten hat sie große Regionen im rohstoffreichen Ostkongo erobert, darunter im Januar die Metropole Goma, Hauptstadt der Provinz Nord-Kivu. Die Miliz will sich als eine Ordnungsmacht präsentieren, die nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges in der Region Ordnung schafft und staatliche Strukturen aufbaut, besser als das die kongolesische Regierung in der fernen Hauptstadt Kinshasa je geschafft habe. Doch internationale Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlinge berichten von schweren Menschenrechtsverletzungen der Rebellen. Die Schätzungen über die Zahl der Opfer gehen weit auseinander. Eine UN-Vertreterin sprach schon Anfang Februar 2025 von mindestens 2900 Toten. Außerdem werden viele Menschen vermisst. Unter den Toten in Goma sind viele Freunde des kongolesischen Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten Jubilé Kasay. Er würdigt sie in diesem Beitrag.

Idengo

Idengo war ein sehr engagierter Musiker. Er war 32 Jahre alt und hatte in Beni den Angriff der ADF-Miliz überlebt. (Die ADF-Miliz gehört zum sogenannten Islamischen Staat, ist vor allem im Osten des Kongo aktiv und berüchtigt für Massaker an Zivilisten, für Entführungen, Vergewaltigungen und Plünderungen. Die Gruppe wird für den Tod von mehreren Tausend Zivilisten verantwortlich gemacht; Anm. d. Red.) Der Schmerz über diesen Verlust war zum Motor seiner Kunst geworden. Seine Musik war klar und kompromisslos, seine Texte waren ein Aufruf zu Gerechtigkeit und Würde.

Kongo – Eine Hommage an ermordete Freunde: Auch sie hatten Träume

Ich erinnere mich an einen Donnerstag im Zentralgefängnis von Munzenze. Ich und weitere Kameraden der Bewegung LUCHA (»Lutte pour le Changement«, »Kampf für Veränderung«) waren schon inhaftiert und mussten eines Tages auch Idengo im Gefängnis begrüßen. Wegen seiner Kritik an der Regierung in Kinshasa war er nun ebenfalls inhaftiert worden. Als ich ihn zum ersten Mal sah, kam er mit einer Gitarre aus seiner Zelle und spielte uns dann ein Lied vor mit dem Titel »Gouvernement des fous« (»Regierung der Verrückten«). Anschließend sagte er auf Kisuaheli einige Worte zu uns, die uns sehr motivierten, zumal viele von uns zum ersten Mal verhaftet worden waren: »Musi chunge kitu kutoka Kinshasa kama hamu gombaniye haki genu« – auf Deutsch etwa: »Erwartet nichts von Kinshasa, wenn ihr nicht selbst für eure Rechte kämpft.« Das war sein Credo. Diese Worte sind mir seitdem im Gedächtnis geblieben.

Wegen seiner Lieder wurde er mehrmals verhaftet und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert, unter anderem in Munzenze. Nachdem die Rebellen der M23 im Januar in die Stadt Goma einmarschiert waren, geriet das Gefängnis in Brand – Idengo überlebte (Am 27. Januar 2025 soll die Miliz das Untersuchungsgefängnis von Munzenze in der Provinzhauptstadt Goma angegriffen und in Brand gesetzt haben; Anm. d. Red.) Kurz nach dem Feuer kam er frei und fand Zuflucht bei seiner Schwester.

Zwei Wochen später kontrollierte die M23 bereits die gesamte Stadt. Am 13. Februar 2025 wurde Idengo im Hof des Hauses seiner Schwester erschossen. Die M23 töteten ihn und zogen ihm dann eine Militäruniform an, während seine Schwester und einige Nachbarn die Szene beobachteten.

Idengo war nie Soldat gewesen, sondern war bekannt für seine Lieder, in denen er das tägliche Leben der Kongolesen besang. Ein Leben in dem Elend, das durch schlechte Regierungsführung verursacht wurde. Sein Kampf wird in der Jugend des Landes weiterleben.

Daniel

Daniel war 23 Jahre alt. Er wirkte eher zurückhaltend, war dabei aber sehr willensstark. Daniel stammte aus einer Familie, in der das Geld knapp war. Er wollte mehr erreichen. Während andere junge Menschen in seinem Alter schon studierten, kämpfte er darum, die Sekundarschule abzuschließen. Tagsüber lernte er, abends arbeitete er als Hilfsmaurer und nachts verkaufte er Telefonkarten, um seine Mutter und seine kleine Schwester zu versorgen, da sein Vater abwesend war. Er träumte davon, Elektronikingenieur zu werden.

Kongo – Eine Hommage an ermordete Freunde: Auch sie hatten Träume

An einem Freitagabend, einen Tag vor seinem Tod, saßen wir zu viert unter dem Sonnenschirm zusammen, unter dem er die Telefonkarten verkaufte. Er erzählte uns von seinem Plan, dieses Stadtviertel zu verlassen, weil dort zu viele Soldaten der M23 unterwegs seien. Nach dem Wochenende wollte er in ein Zelt etwas außerhalb ziehen, um in Sicherheit zu sein.

Am Tag nach unserem Gespräch, dem 22. Februar 2025, verkaufte Daniel in der Kasika-Allee in Goma wie üblich Telefonkarten. Gegen 16 Uhr tauchten drei Jeeps der M23 auf. Sie riegelten die Straße ab. Daniel war überrascht und von Angst erfasst. Er erklärte den Milizionären immer wieder, dass er kein Soldat oder Kämpfer sei und zeigte ihnen seinen Telefonkartenstand. Die Nachbarn, die das Geschehen von ihren Häusern aus beobachteten, konnten verstehen, was er sagte. Warum nur war ich an diesem Samstagabend nicht wie üblich dort? Vielleicht, damit ich über das berichten kann, was geschehen ist! Daniel hätte am Leben bleiben sollen. Er hätte kreativ sein, lernen und etwas aufbauen sollen. Seine Mutter und seine Schwester können nur schwer akzeptieren, dass Daniel nicht mehr zurückkommen wird. Für mich lebt er weiter.

Freddy

Freddy war 32 Jahre alt und hatte ein Kind. Er hatte sich entschieden, als Künstler zum Kampf der politisch bewussten Jugend beizutragen, die sich für Veränderung einsetzte. Freddy sang vom Leid seines Volkes, das seit mehr als drei Jahrzehnten in der Krise steckt. Aber Musik allein reichte nicht aus, um eine Familie zu ernähren. Er wurde Taxifahrer, um für seine Familie sorgen zu können.

Am Samstag, dem 22. Februar 2025, hatte Freddy frei. Am Nachmittag reparierte er zusammen mit seinem Schwager und seiner Schwägerin sein Haus im Stadtviertel Kasika von Goma. Er wollte ein Heim für seine Familie schaffen, mit Frau und Kind ein stabileres Leben führen. Doch an diesem Nachmittag wurde das Viertel von Rebellen der M23 abgeriegelt, gegen 17 Uhr tauchten sie auf. Sie fingen an zu schießen. In ihrer Panik verriegelten Freddy und seine Familie die Haustür. Die Soldaten brachen sie auf. Freddy und sein Schwager versuchten, mit den Milizionären zu reden und die Situation zu beruhigen. Vergeblich. Sie wurden im Hof erschossen. Seine Schwägerin, die im Nachbarhaus wohnte, wurde kurz darauf ebenfalls getötet. Hatten die M23 die Straße abgeriegelt, um Soldaten der kongolesischen Armee zu suchen? Warum wurden einfache Zivilisten getötet?

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Als seine Familie erfuhr, was passiert war, eilte sie zum Tatort. Freddy atmete noch. Die Kämpfer der M23 waren noch dort. Sein Bruder flehte sie an, Freddy ins Krankenhaus bringen dürfen. Als Antwort schossen ihm die Milizionäre in die Füße. Sie zwangen seine Familie, Freddys Tod beizuwohnen, obwohl er noch hätte gerettet werden können. »Vielleicht hat Freddy in seinen letzten Augenblicken gesehen, wie wir ihn sterben sahen«, sagte seine Mutter weinend bei seiner Beerdigung, an der auch ich teilnahm. Sie wurde von den Rebellen der M23 aufgelöst, damit niemand seine Bestattung dokumentieren konnte.

Er hätte Besseres verdient. Er hätte weiter singen, Taxi fahren und ein friedliches Leben mit seiner Familie aufbauen sollen. Seine Stimme ist verstummt, aber sie hallt weiter – in unserer Erinnerung und in der Stille, die seine Abwesenheit hinterlassen hat.

Denis

Denis glaubte daran, dass Bildung etwas in unserem von bewaffneten Gruppen zerrissenen Land verändern kann. Trotz der sehr kritischen Lage der kongolesischen Staatsbeamten unterrichtete Denis mit 45 Jahren weiterhin Kinder und lehrte sie, Hoffnung zu haben und an eine bessere Zukunft zu glauben.

Jeden Morgen sahen wir ihn sehr früh mit seinen Kindern, Neffen und Nichten durch die Gassen des Viertels in die Schule gehen, in der er unterrichtete und in der seine Kinder, Nichten und Neffen lernten. Oft trug er Schuhe, die sichtbar alt waren. Auf dem Weg grüßte er regelmäßig die Frauen, die in der Nachbarschaft Krapfen verkauften. Und viele der anderen Kinder, die er fast alle mit Namen kannte, nannten ihn liebevoll »Papa Denis«.

Sein Leben war nicht einfach. Seine Frau hatte ihn aus finanziellen Gründen verlassen, danach hatte er auf dem Grundstück seiner Schwester Zuflucht gefunden. Er lebte in einem kleinen Haus auf ihrem Grundstück und zog seine Kinder alleine auf. Denis träumte davon, eine junge Generation mit anderen Idealen heranzuziehen.

Am 22. Februar 2025, einem Samstag, kam Denis früher von der Schule nach Hause, weil der Unterricht wegen der Spannungen in der von Rebellen kontrollierten Stadt ausgesetzt worden war. Auf dem Rückweg kam er an dem kleinen Laden seiner Schwester vorbei und sprach kurz mit ihr. Die beiden vereinbarten, dass sie sich am Abend nochmals sehen würden, wenn sie von der Arbeit nach Hause gekommen sei. Danach ging Denis weiter. Als er nur noch wenige Meter von seinem Zuhause entfernt war, hörte er Gewehrsalven und sah Menschen panisch in alle Richtungen davonrennen. Denis versteckte sich zusammen mit anderen Menschen in einem Kiosk.

Im nächsten Moment näherten sich Milizionäre der M23 dem kleinen Kiosk und töteten alle acht Menschen, die sich darin versteckt hatten. Denis starb vermutlich, als er seinen Ausweis vorzeigen wollte, denn dieser lag auf dem Boden, als die Leichen am Sonntagmorgen weggebracht wurden. Statt ihren Bruder wie vereinbart am Samstagabend wiederzutreffen, sah Denis’ Schwester ihren Bruder nun am Sonntagmorgen tot, zusammen mit vielen anderen Leichen, die bereits in einen Rohbau neben dem Kiosk gebracht worden waren.

Emille

Emille, 28 Jahre alt und Vater eines kleinen Jungen, arbeitete als Taxifahrer in Goma. Am Samstag, dem 7. Juni 2025, wurde er gegen fünf Uhr morgens von Kunden für eine Fahrt angehalten – wie immer war er früh aufgestanden, um seiner Arbeit nachzugehen und seine Familie zu versorgen. Unterwegs wurde sein Fahrzeug von einem Jeep gerammt. Als Emille ausstieg, um nach dem Grund zu fragen, stellte er fest, dass das Fahrzeug den Rebellen der M23 gehörte. Zeugenaussagen zufolge entschuldigte er sich sofort, als er erkannte, mit wem er es zu tun hatte.

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Die Kämpfer stellten keine Fragen. Sie zogen ihre Waffen und schossen ihm zwei Kugeln in die Brust. Seine Leiche wurde auf einem leeren Grundstück zurückgelassen. Dort fanden ihn seine Angehörigen leblos.

Der Tod von Emille hat seine Familie und alle, die davon erfahren haben, zutiefst schockiert. Alle achteten ihn als einen fleißigen Mann, der sich für eine bessere Zukunft seines Kindes engagierte. Sein Tod reiht sich ein in eine lange Serie von Übergriffen auf Zivilisten in der von der M23 kontrollierten Region Goma. Bislang wurde noch keiner der Täter identifiziert oder gar strafrechtlich verfolgt. Ich werde diese Gewalt weiterhin anprangern!

Pierre

Pierre war ein Aktivist der LUCHA. Ich kannte ihn nicht persönlich, aber er war wie ich Mitglied dieser Bürgerbewegung. Am Mittwoch, dem 12. Februar 2025, wurde er von Rebellen der M23 im Stadtteil Buziralo des Dorfes Muhongoza in der Provinz Süd-Kivu erschossen. Pierre wurde 1998 in Buziralo geboren und war Student im ersten Studienjahr am Institut Supérieur des Techniques et de Développement de Kalehe (ISTD Kalehe). Er war LUCHA schon 2016 beigetreten und hatte sich stets durch sein unermüdliches Engagement für einen freien, demokratischen und gerechten Kongo ausgezeichnet.

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Augenzeugen und Untersuchungen von Human Rights Watch zufolge wurden vier weitere junge Menschen, die dem Local Youth Council, einem Zusammenschluss lokaler Jugendorganisationen, angehörten, neben Pierre erschossen. Es handelt sich um Busime Namuhe Bolingo, Mussaada Namuhe, Balole Hamuli und Daniel Kahamire. Sie waren alle von Rebellen der M23 festgenommen und gezwungen worden, verwundete und tote Milizionäre zu bergen, ehe sie selbst aus nächster Nähe nacheinander erschossen wurden.

Was die Bevölkerung im Osten des Kongo erlebt, darf nicht länger in Zahlen zusammengefasst oder durch diplomatisches Schweigen heruntergespielt werden. Die Tragödie, die wir durchleben, ist auch eine politische. Denn wenn die Mörder Waffen tragen, sind es oft die Machthaber, die sie decken.

In Kinshasa gibt es viele, die früher – aktiv oder durch ihr stillschweigendes Einverständnis – an den Gewalttaten beteiligt waren, die heute unser Land zerreißen. Einige wurden mit politischen Ämtern belohnt, andere sind Generäle in unserer nationalen Armee geworden. Straflosigkeit ist zu einer Treppe zur Macht geworden, und die Erinnerung an die Opfer zu einer Last, die man lieber begraben möchte.

Nach ihrer Rückkehr in die teils zerstörte kleine Stadt Sake, 27 Kilometer von Goma entfernt, stehen die Bewohner vor großen Herausforderungen.
Nach ihrer Rückkehr in die teils zerstörte kleine Stadt Sake, 27 Kilometer von Goma entfernt, stehen die Bewohner vor großen Herausforderungen.

Aber wir, die jungen Kongolesen von heute, lehnen dieses Erbe ab. Wir wollen keine Kultur mehr, in der Gewalt zu einem legitimen Mittel wird, um seine Rechte durchzusetzen. Wir glauben nicht mehr an Schweigen und leere Versprechungen. Wir wollen ein Land, in dem Gerechtigkeit nicht von Rang und Namen abhängt, sondern von der Wahrheit.

Unsere Toten hatten Träume. Es ist unsere Pflicht, diese Träume mit Mut und Würde weiterzutragen. Nicht mit Rache, sondern mit einer festen Forderung: Nie wieder!

Übersetzt von Bettina Rühl

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