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Das Loch in der Sohle

Sandra Weihs’ Roman »Bemühungspflicht« zeigt, wie das sogenannte Sozialsystem Menschen zugrunde richtet

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 5 Min.
Wenigstens ein frischgepresster Orangensaft wird doch wohl drin sein? Bei den Deklassierten reicht es mitunter noch nicht einmal für die Supermarktvariante.
Wenigstens ein frischgepresster Orangensaft wird doch wohl drin sein? Bei den Deklassierten reicht es mitunter noch nicht einmal für die Supermarktvariante.

Carsten Linnemann, Generalsekretär der CDU, will »an die Substanz gehen« und Bundeskanzler Friedrich Merz träumt davon, Armen auch das letzte Geld zu streichen; man könne sich »diesen Sozialstaat« schlichtweg nicht mehr leisten. Diese neuesten Ausfälle der Bundesregierung gegen Arme und Marginalisierte folgen dem alten Grundsatz: Wer Schwierigkeiten hat, dem werden Schwierigkeiten gemacht.

Rhetorisch bemühen sich die Verelendungsexperten darum, bloß nicht allzu viel Menschlichkeit aufkommen zu lassen: Sie reden von Systemen, von Abläufen, von Strukturen. Die technokratische Abstraktheit soll jede Empathie verhindern. So agiert eine Organisation, die von sich behauptet, sich einem christlichen Menschenbild verschrieben zu haben.

Einer dieser Menschen, die derart entwürdigt werden, ist Manfred Gruber. Irgendwo in Österreich steht er an einer Supermarktkasse und will sich – ausnahmsweise – einen frischgepressten Orangensaft gönnen. Es ist der Zweite des Monats, da gibt das Budget solche Extravaganzen noch her. Zumindest dachte er das, aber an der Kasse stellt sich raus: Es ist kein Geld auf dem Konto. Das Amt hat nicht überwiesen. Selbst einen Orangensaft trinken zu wollen, ist zu viel verlangt.

Gruber ist ein gewissenhafter und erfahrener Sozialhilfeempfänger. Er weiß, dass er alle Unterlagen eingereicht hat, dass er genug sinnlose Bewerbungsschreiben verfasst hat. Er hat nichts falsch gemacht. Es muss ein Versehen sein. Aber es ist kein Versehen: Das Amt hat beschlossen, dass er arbeiten kann. Und deswegen haben sie ihm unangekündigt die Bezüge gekürzt.

Er ist sicher kein Held, hatte eine eher wilde Jugend, hat Metzger gelernt in einem großen Betrieb, ein Kind bekommen, zu viel getrunken und die Kindsmutter bedroht, auch mal eine volle Bierflasche geworfen, da ging die Beziehung in die Brüche. Den Job hat er irgendwann aufgegeben – der Rücken! – und sich zu Hause um die gebrechliche Mutter gekümmert.

Seit ihrem Tod hat er das Haus, das schon Arbeit genug ist. Der Garten will umgegraben werden, ein Nachbarskind braucht einen Kaninchenstall. Das Trinken hat Gruber größtenteils aufgegeben, genauso wie fast alle zwischenmenschlichen Kontakte. Das Verhältnis zum Sohn ist zerrüttet, der Smalltalk mit den Nachbar*innen nervt, überhaupt ist er nicht sehr gut darin, mit anderen zu reden. Er will nur seine Ruhe.

Aber das ist nicht vorgesehen, denn es gibt da diese »Bemühungspflicht«, wie es in Österreich heißt. Wenn er sich keine Arbeit sucht, wird ihm das Amt das Haus wegnehmen, jenes Haus, das er seinem Sohn vermachen will als letzte Geste der Zuneigung. Das Haus, dessen Erhalt sein Lebensinhalt geworden ist. Aber das versteht das Amt natürlich nicht. Ohnehin gilt er als unbequem und unangepasst, weil er sich ständig beschwert. Zum Beispiel, wenn er wieder in einen vollkommen sinnlosen Job vermittelt wird, von dem ohnehin klar ist, dass er ihn nicht wird machen können. Aber Gruber ist nicht unwillig: Er fügt sich, geht hin, leistet mehrere Schichten unbezahlter Arbeit, um dann zu hören, was er ohnehin schon wusste.

Und dann ist da die Sache mit dem Fuß. Das fing damit an, dass er durch die regennassen Straßen zum Amt gelaufen ist, um den Zahlungsverzug zu klären. Und weil er ein Loch in der Sohle hatte, ist die ganze Haut aufgeweicht. Obendrein ist ihm ein Nagel eingewachsen. Er ignoriert das, macht ein bisschen Salbe drauf, aber zum Arzt will er nicht. Und dann wird es immer schlimmer, auch wegen der Arbeitsmaßnahme, in die ihn das Amt gegen seinen Willen steckt.

Das ist eine der gängigen Reaktionen von Menschen, die von Ämtern herabgewürdigt werden. Sie glauben nicht, dass ihnen irgendwo tatsächlich geholfen wird. Sie sollen weiter zugerichtet werden, das ist ihre Alltagserfahrung. Das macht es schwer, zum Arzt zu gehen, insbesondere dann, wenn man im Ideal des »ganzen Kerls« erzogen wurde.

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All das beschreibt Autorin Sandra Weihs in einem trockenen, bissigen Ton, der sich aber nie über die Figuren erhebt. Es ist der Ton einer humanen Sachlichkeit. Die meiste Zeit spricht die Erzählerin – eine Sozialarbeiterin, die irgendwie versucht, dem Gruber sein Haus zu retten – in ihren Gedanken zu ihrem Klienten. Es ist wie ein langer Brief, der bisweilen etwas Entschuldigendes hat: Sie weiß schon, dass auch sie Teil des Systems ist, das Manfred Gruber derart zurichtet und verstümmelt; sie versucht immerhin, darüber selbst nicht vollständig zu verhärten.

Weihs, die selbst Sozialarbeiterin ist, gelingt es sehr gut, die Hilflosigkeit nicht nur der Betroffenen einzufangen, sondern auch die völlige Abstumpfung der Leute im System darzustellen. Auch den politisch Stabilen bleiben am Ende nichts weiter als fromme Wünsche. Die Maschine, die Manfred Gruber zermalmt, haben andere gebaut, zum Beispiel Leute wie Merz und Linnemann. Es liegt etwas Hoffnungsloses darin, all den Grubers dabei zuzusehen, wie sie gegen diese Maschine anstrampeln und nach und nach dann doch zermahlen werden.

Manfred Gruber wird sich nach all seinen Kämpfen den Fuß absägen; es scheint ihm der letzte Ausweg, um dem ganzen Irrsinn zu entfliehen. Ganz zum Schluss wird ein Versicherungsexperte im Fernsehen sagen, er vermute, dass sich Manfred Gruber damit habe eine Pension erschleichen wollen – und das sei wohl ein Betrug. So ist das, man reißt sich ein Bein aus und es reicht trotzdem nicht. Das ist es, was Linnemann und Merz auch weiterhin für die Armen, für die Manfred Grubers dieser Welt vorgesehen haben: eine wohltemperierte Grausamkeit.

Sandra Weihs: Bemühungspflicht. Frankfurter Verlagsanstalt, 256 S., geb., 24 €.

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