Film »Swiped«: Matilda und ihre Brüder

Disney inszeniert die unwahrscheinliche Heldinnen­geschichte einer Frau im Silicon Valley

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 5 Min.
Einer Frau zuhören, ohne ihr ins Wort zu fallen: Der Weltrekord für Männer liegt bei 18 Sekunden.
Einer Frau zuhören, ohne ihr ins Wort zu fallen: Der Weltrekord für Männer liegt bei 18 Sekunden.

Der Matilda-Effekt bezeichnet ein ebenso altes wie aktuelles Phänomen. Wenn Frauen etwas Bedeutendes, sagen wir: das Atom oder die DNA, entschlüsseln, wird der anschließende Ruhm naturgemäß Männern zuteil. Dieses Bropropriating genannte Unrecht wurde schon der mathematisch hochbegabten Gattin des Philosophen Pythagoras zuteil. Aber auch zweieinhalb Jahrtausende und dreieinhalb Emanzipationsbewegungen später ernten die Herren der Schöpfung regelhaft den Lorbeer weiblichen Erfindungsreichtums.

Whitney Wolfe zum Beispiel. 2012, das Internet ist noch voller Flausen, trifft die sendungsbewusste Sozialaktivistin bei der Suche nach Investoren für ihre NGO auf den Start-up-Gründer Sean Rad. Nachdem sie ihn von sich überzeugt hat, arbeiten beide gemeinsam an einer Dating-App. Den Algorithmus dahinter steuern zwar Männer bei. Doch es ist Whitney, die ihn in Windeseile massenkompatibel macht und obendrein das Label der zündenden Idee automatisierter Beziehungsanbahnung ersinnt: Tinder. Englisch für Zunder.

Das ist fabelhaft geschrieben, fabelhaft gespielt, fabelhaft inszeniert und gerade deshalb schwerer erträglich als manch ein Gruselschocker.

Sie wird ein Welterfolg. Der hält bekanntlich bis heute an. Nur leider ohne seine Wegbereiterin. Kurz nachdem die magische Mauer siebenstelliger Downloads fällt, verlässt sie mehr oder minder freiwillig ihr eigenes Unternehmen. Wie es dazu kommt, erzählt ein Biopic, das die bahnbrechende Technik dahinter im Titel trägt: »Swiped«. Mit einem Wisch kann man bei Tinder unliebsame Dates vom Smartphone putzen. Mit einem Wisch entledigen sich Wolfes drei Vorstandskollegen allerdings bald auch ihrer Mitgründerin. Und bei Disney+ untersucht Regisseurin und Ko-Autorin Rachel Lee Goldberg diesen weiteren Schritt hin zur menschlichen Wegwerfgesellschaft mit einem Fokus, der seinesgleichen sucht.

Geschichten aus der Frühzeit des Silicon Valley gibt es schließlich viele. Meist sind es Heldenreisen. Mitunter enden sie zwar im Desaster. Eines aber haben nahezu alle gemeinsam: Weibliche Figuren sind regelmäßig bloß dekorative Accessoires männlicher Reiseführer. Diese Rollenverteilung nahm David Fincher bereits 2010 in seiner Facebook-Anamnese »The Social Network« vor. Hinter Jesse Eisenbergs Mark Zuckerberg schafften es ganze zwei Frauen unter die Top 10 der Besetzungsliste. Auf Rang 9 bis 10 dürfen sie Freundinnen zweier Kerle weiter vorne verkörpern. Handlungsrelevanz? Marginal!

Kein Wunder, könnte man(n) da einwenden: In der frühen Tech-Broconomy entsprach dieser Anteil halt präzise dem echten Geschlechterverhältnis. Von Danny Boyles Apple-Starschnitt »Steve Jobs« bis zur heiteren HBO-Simulation »Silicon Valley« dominieren daher Entrepreneure mit Y-Chromosom, Siegerlächeln und Testosteronüberschuss. Als PR-Beauftrage einer New Yorker Ko-Working-Plattform hatte Anne Hathaway 2024 in der Apple-Serie »WeCrashed« zwar überdurchschnittlich viel Bildschirmzeit. Die musste sich Rebekah Neumann jedoch sechs Teile lang mit ihrem – so heißt das dann gerne – charismatischen Ehemann Adam (Jared Leto) teilen.

Obwohl der reale Anteil weiblicher Führungskräfte im »C-Suite« betitelten Management von CEO (Vorstandsvorsitz) bis CMO (Marketingleitung) je nach Zählweise langsam auf ein Viertel gestiegen ist, tendiert der fiktionale weiter gegen null. Und »Swiped« zeigt 110 Minuten lang eindrücklich, warum beides ein Fehler ist – das macht bereits die erste Begegnung der zwei Hauptfiguren deutlich. »Ich will nichts verkaufen, das niemand braucht«, umschreibt die real existierende Whitney Wolfe (Lily James) auf einer Businessparty ihren Businessplan. »Und ich will nichts tun, wo ich mir einreden muss, es sei sinnvoll.«

Schön und gut, entgegnet der ebenso verbürgte Sean Rad (Ben Schnetzer). »Aber um Veränderung zu bewirken, brauchst du Macht und Einfluss.« Attribute, die ambitionierte Alpharüden wie dieser qua Geburt haben – und nur äußerst ungern abgeben. Schon gar nicht an Alphaweibchen wie dieses. Dass der CEO seine CMO nach ihrer Einstellung zur Teilhaberin macht, ist da nur die Ausnahme der Regel gläserner Decken, an denen selbst talentierte, kompetente, ehrgeizige Frauen häufig abprallen. Und Lee Goldberg zeigt ihre Undurchdringlichkeit mit einer perfiden Abfolge patriarchaler Seitenhiebe.

Hier ein potenzieller Investor, der sein Investment lieber mit dem Tinder-Vorstand Justin Mateen (Jackson White) bespricht, als wäre Whitney Wolfe nebenan Luft. Dort eine Preisverleihung, bei der nur ihr männliches Kollegium auf die Bühne darf. Und als die weibliche Führungskraft wahre Führungsstärke zeigt, indem sie Sexismus-Probleme anspricht, aber auch Lösungen anbietet, schlägt nicht nur der Matilda-Effekt zu; nachdem sie Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt wird, darf der Täter beim Start-up bleiben. Wer gehen muss, ist Whitney.

Die zivilisationstypische Umkehr aller Schuldfragen – von Lily James mit körperlich spürbarer Intensität dargestellt – ist fabelhaft geschrieben, fabelhaft gespielt, fabelhaft inszeniert und gerade deshalb schwerer erträglich als manch ein Gruselschocker mit Kettensägenmassaker. Dass dieser Alltagshorror zur Erfolgsgeschichte weiblichen Empowerments wird, liegt folglich an der Regisseurin. Rachel Lee Goldberg gönnt ihrer Protagonistin nicht nur eine schmerzhaft plausible Katharsis. Sie macht Whitney Wolfe zur Rächerin der Tech-Branche, die ihr Schicksal mit fremder Hilfe, am Ende aber selbstbestimmt gestaltet.

Wie genau, wird hier natürlich nicht verraten. Aber als handlungsrelevante Nebenfiguren auf dem Weg vom Regen in die Traufe treten auf: der britische Konkurrent russischen Ursprungs (Dan Stevens), das Projekt einer feministischen Dating-App (Bumble BFF) und eine Reporterin (Myha’la Herrold), die über das disruptive Gefahrenpotenzial des Smartphone-Zeitalters der mittleren Zehner früh berichtet. Diese mögen noch keine 15 Jahre her sein; von heute aus gesehen wirkt die drollige Spielplatzatmosphäre aufstrebender Start-ups, wo jemand, ohne im Bällebad ertränkt zu werden, »junge Leute daten nicht online« sagen darf, wie ein Relikt der Schreibmaschinen-Epoche.

Suggerierten die Hängematten, Kinderrutschen, Tischtennisplatten grundsätzlich offener Büros seinerzeit, Arbeit im Start-up gleiche trotz latenter Selbstausbeutung einer Freizeitbeschäftigung, herrscht mittlerweile das strenge Regime renditefixierter Multimilliardäre mit Zugriff auf staatliche Macht. Die Angst vor Donald Trump und Elon Musk erstickt längst jede Inspiration. Leichtfüßige Produktionen wie »The Internship« (2013) um die Generation Praktikum im Suchmaschinenraum Google wären angesichts der Abrissbirne im Weißen Haus da seltsam deplatziert. Und offene Kritik an den TechBros eines angehenden Diktators übt, abgesehen von ein paar Late-Night-Shows auf Abruf, ohnehin nur noch die Zeichentrickserie »South Park«.

»Swiped« läuft derzeit auf Disney+.

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