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David Byrne: Scheiß auf die Avantgarde!
David Byrnes neues Album »Who Is The Sky?«
Es gab eine Zeit, da war David Byrne so etwas wie das charakteristische Sinnbild der popkulturellen Avantgarde. Mit den Talking Heads, die sich 1975 gründeten und deren Frontmann er war, dekonstruierte er Punk, noch bevor es ihn überhaupt gab. Die Band und er wurden so zum wandelnden Widerspruch: Konzeptionelle Tiefe und Dancefloor-Tauglichkeit, Mainstream und Subkultur, Charakteristik und ästhetische Flexibilität, westliche Popmusik und transkulturelle Sounds – all das kulminierte in einem Sound, der bis heute aus Tausenden zu erkennen ist.
Doch die Zeiten haben sich geändert – und damit auch die Begriffe und ihre Bedeutungsebenen: Während sich die radikale Rechte als neue politische Avantgarde versteht, verscherbeln Billigmodeketten wie H & M T-Shirts mit »Avantgarde«-Aufdruck für 4,99 Euro – womit sich die These Frederic Jamensons, derzufolge der Kapitalismus jede Form von Widerstand ästhetisiert und damit entschärft, in potenziert-pervertierter Form längst als wahr erwiesen hat.
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Auf seinem kürzlich erschienen Soloalbum »Who Is The Sky?« nähert sich Byrne dennoch einmal mehr dem leidlichen Thema. »I saw a woman in a leotard/ Now I’m not sure how I feel/ About the avant garde/ Now I like the idea their politics too/ But I’m not really sure/ If that means that it’s good«, singt er in der Vorabsingle »The Avant Garde«. Der Song ist ein ironisches Spiel mit Verheißung und Faszination, die von dem Begriff ausgehen. Wer definiert, was Avantgarde ist? Und ist es gut, nur weil es neu und aufregend erscheint? Am Ende des Refrains entledigt er sich schließlich aller Zweifel und konkludiert: »It’s the avant garde/ And it doesn’t mean shit« – also in etwa: Scheiß auf die Avantgarde!
Diese erfrischende Klarsicht ist vielleicht auch seiner Rolle als »Elder Statesman« der artifiziellen Popmusik zu verdanken: Denn David Byrne muss nichts mehr beweisen. Er steht gewissermaßen über den Dingen, was ihm eine Art Narrenfreiheit verschafft. Sein letztes Album »American Utopia« aus dem Jahr 2018 wurde von der Kritik frenetisch gefeiert und gilt heute als Meilenstein. Danach wurde es ruhig um ihn. Mit »Who Is The Sky?« veröffentlicht er nun das elfte Album seiner Solokarriere. Doch anders als sein monumental-düsterer Vorgänger, der sich den großen politischen und sozialen Fragen der Gegenwart widmete, richtet er den Blick nun stärker auf introspektive und persönliche Themen: Liebe, Kreativität und der eigene Platz in einer aus den Fugen geratenen Welt sind nur einige davon.
All das schmückt er mit einem opulent-orchestralen Sound, der sich munter zwischen Elementen aus Latin, Funk, Pop und Elektronik bewegt. Aufgenommen hat er das Album mit dem New Yorker Ghost Train Orchestra. Vergleicht man es mit »American Utopia«, fällt auf, dass es mit Songs wie dem Opener »Everybody Laughs«, »When We Are Singing« oder »She Explains Things To Me« deutlich heller und optimistischer wirkt. Was paradox ist – schien die Welt vor sieben Jahren doch zumindest auf den ersten Blick noch deutlich weniger zerrüttet. Doch vielleicht erweist sich David Byrne damit auch einmal mehr als Meister der kreativen Antizyklik. Ob er damit noch Avantgarde ist oder nicht, ist eigentlich auch egal.
David Byrne: Who Is The Sky? (Matador)
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