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- Steinhöfel in Brandenburg
Linke und AfD bilden eine Fraktion
Im brandenburgischen Steinhöfel machen zwei Kommunalpolitiker, was bisher undenkbar schien
Matthias Natusch stammt aus Frankfurt (Oder). Dort gehörte sein Vater einst zur PDS-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung. Matthias Natusch verkaufte als Kind für 50 Pfennig je Exemplar das örtliche Parteiblättchen »Der Rote Hahn«, wie er sich erinnert. Später diente er als Gebirgsjäger in der Bundeswehr, studierte, lebte in Frankreich, der Schweiz, in Stuttgart und Berlin – heute in der Gemeinde Steinhöfel im Landkreis Oder-Spree.
2013 ist der mittlerweile 43-Jährige in die drei Monate zuvor gegründete AfD eingetreten, aber zunächst damit nicht öffentlich in Erscheinung getreten. Das änderte sich erst bei der Kommunalwahl 2024, als er erfolgreich für den Kreistag und die Gemeindevertretung kandidierte. In Steinhöfel hätten die Stimmen für eine fünfköpfige AfD-Fraktion ausgereicht, aber nur Natusch war hier für diese Partei angetreten. Die vier anderen Sitze in der Gemeindevertretung blieben leer und Natusch blieb fraktionslos – bis ihn Anfang Oktober die ebenfalls fraktionslose Gemeindevertreterin Bettina Lehmann davon überzeugte, gemeinsam die zweiköpfige Fraktion »Vernunft & Verantwortung« zu gründen. Das Besondere dabei: Lehmann ist Mitglied der Linken. Der Fall ist in Brandenburg bislang beispiellos.
Nun sitzt Natusch an einem verregneten Tag mit Bettina Lehmann zusammen. Er bestätigt, dass sie die Idee hatte, sich zusammenzutun. »Ich selbst wäre nie darauf gekommen. Dazu fehlte mir die Fantasie«, gesteht er. »Aber ich wusste gleich, was es für sie bedeutet und was es für mich bedeuten könnte.« Am 7. Oktober haben beide die Gründung ihrer Fraktion angezeigt. »Unser Ziel ist es, Brücken zu bauen, wo andere Brandmauern errichten«, erklärten sie.
Die Reaktion der Linken: Bettina Lehmann solle die Fraktion verlassen oder die Partei. Wenn sie das nicht tut, soll sie aus der Partei ausgeschlossen werden. »Die Linke lehnt die Zusammenarbeit mit der als gesichert rechtsextrem eingestuften AfD entschieden ab«, versicherte der Vizelandesvorsitzende Stephan Wende. Eine Fraktion mit Natusch zu bilden, verbiete sich von selbst.
»Ich wusste gleich, was es für sie bedeutet und was es für mich bedeuten könnte.«
Matthias Natusch AfD
Die Reaktion der AfD: Der Landesvorsitzende René Springer und Landtagsfraktionschef Hans-Christoph Berndt finden es gut, wenn in Steinhöfel die vielbeschworene Brandmauer fällt. Der Kreisvorsitzende Rainer Galla meint dagegen, dass sich jede Zusammenarbeit der AfD mit der Linken verbiete und Natusch die Fraktion verlassen solle oder die Partei und andernfalls ausgeschlossen werden müsste.
»Die Bürger wählen nicht AfD, um dann von Alt-SED-Kadern gegängelt zu werden«, schimpft Galla. Bettina Lehmann war freilich nie SED-Mitglied, wie sie berichtet. Seit 2014 ist sie Gemeindevertreterin und seit 2017 Mitglied der Linken. Zwar ist sie bei der Kommunalwahl 2024 als Einzelbewerberin angetreten, wurde aber weiter als Linke wahrgenommen. »Ich werde mich nicht verbiegen«, sagt Lehmann. »Ich habe einen starken Gerechtigkeitssinn und meinen eigenen Kopf.« Sie weiß selbst, dass es nun darauf hinauslaufen wird, dass sie aus der Partei ausgeschlossen wird.
Dass Natusch seinerseits aus der AfD geworfen wird, glaubt er nicht. Aber klein beigeben würde der Kampfsportler auch nicht. »Wenn sie mich ausschließen würden, dann wäre es nicht mehr meine Partei«, sagt der 43-Jährige.
Beide haben sich nicht gegen das Coronavirus impfen lassen, beide sind genervt von der Gendersprache, beide sind gegen Kriege und Aufrüstung. Aber solche Schnittmengen sind es nicht, die sie zusammenführten, nachdem sie früher kaum mehr Worte miteinander wechselten als »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«. Jetzt harmonieren sie schon nach wenigen Tagen des besseren Kennenlernens ausgezeichnet miteinander. Sie wollen etwas für Steinhöfel bewegen, beispielsweise Windräder verhindern, und dazu endlich in den Ausschüssen der Gemeindevertretung mitreden, was sie als Fraktionslose nicht durften. Die Parteizugehörigkeiten sollten keine Rolle spielen, findet Lehmann. Die 63-Jährige ist hier aufgewachsen und arbeitete in der DDR beim Volkseigenen Gut in der Landwirtschaft. Sie möchte nirgendwo anders leben.
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Zu Lehmanns Entfremdung von der Linken trug bei, was sie 2022 im Kreistag Oder-Spree miterlebte, dem sie damals noch angehörte. Ein von der Linksfraktion zusammen mit FDP und Bürgervereinigung Fürstenberg (Oder) eingebrachter Friedensappell verfehlte die Mehrheit um eine Stimme nur deshalb, weil ausgerechnet der Abgeordnete Stephan Wende (Linke) seine Zustimmung verweigerte. Wende hatte seinerzeit nichts dagegen einzuwenden, dass der Landrat dem Bundeskanzler einen Brief schreiben und ihn auffordern sollte, alles zu unterlassen, was den Krieg in der Ukraine verlängert. »Ich habe nicht zugestimmt, weil von Beginn an abzusehen war, dass dieser Appell nur eine Mehrheit finden würde durch die AfD«, begründete Wende sein Verhalten.
Natusch meint: »Dieses Links und Rechts hilft doch nur der Obrigkeit.« Er hat einen 15 Jahre alten Sohn. Der ist vor wenigen Wochen von einem 18-jährigen Flüchtling brutal verletzt worden. Sein Sohn habe nach einem Bruch des Jochbeins am Auge operiert werden müssen, erzählt Natusch. Der Täter sitze inzwischen in Untersuchungshaft. Die AfD-Landtagsfraktion machte den Fall breiter bekannt und erklärte, dass es wohl viele von Flüchtlingen an Schulen verübte Gewalttaten gebe, die nicht gemeldet und verfolgt werden – eine Darstellung, die das Potsdamer Bildungsministerium entschieden zurückwies.
Es gab eine Demonstration in Fürstenwalde, bei der Vater Natusch Seite an Seite mit Neonazis der Partei Der dritte Weg marschiert sein soll. Natusch selbst beteuert, er sei antifaschistisch erzogen und wolle mit solchen Leuten nichts zu tun haben. Er habe im Vorfeld der Demonstration betont, dass Neonazis wegbleiben sollen. Er könne allerdings nicht ausschließen, dass doch welche mitgelaufen seien. Natusch berichtet außerdem, sein Sohn habe syrische Freunde und sich durch die erlittene Gewalt glücklicherweise nicht dazu verführen lassen, nun alle Jugendlichen arabischer Herkunft für schlechte Menschen zu halten.
Für Bettina Lehmann war der Vorfall ein Beweggrund, auf Natusch zuzugehen. Sie hat sich vorgestellt, dass es eines ihrer drei Kinder getroffen hätte. Linke dürften bei solchen Schwierigkeiten nicht wegschauen.
Die Gemeinde Steinhöfel zählt rund 4400 Einwohner und umfasst zwölf Dörfer, darunter Steinhöfel selbst, Beerfelde, Jänickendorf und Tempelberg. Zur Gemeinde gehört auch Neuendorf im Sande. Dort erlernten von 1932 bis 1941 Juden, die nach Palästina auswandern wollten, auf einem Landgut Fertigkeiten, die sie in der neuen Heimat gebrauchen könnten. Ab 2018 etablierte sich auf dem Gelände ein vom Mietshäusersyndikat unterstütztes Kultur- und Wohnprojekt.
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