Vom Parlament hinter den Tresen

Brandenburgs Ex-Landtagsabgeordnete Andrea Johlige (Linke) rettet die Kneipe »Zur goldenen Kugel« in Fürstenberg/Havel

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 7 Min.
Die alte Kneipe »Zur goldenen Kugel« und die neue Wirtin
Die alte Kneipe »Zur goldenen Kugel« und die neue Wirtin

Im alten Kachelofen brennt keine Kohle, die Heizkörper sind abgestellt. In der Wohnung über der gemütlich warmen Kneipe »Zur goldenen Kugel« in Fürstenberg/Havel ist es darum empfindlich kalt. Hier scheint die Zeit in den 1990er Jahren eingefroren zu sein. Die Möbel stammen teils von damals, teils sind sie noch deutlich älter. Eine steile Stiege führt hier herauf und dann noch eine solche Stiege zu den engen Kammern unter dem Dach, die einstmals Gäste beherbergten, die mit einem bescheidenen Standard zufrieden waren, den heutzutage niemand mehr akzeptieren würde.

Hier oben kann die ehemalige Brandenburger Landtagsabgeordnete Andrea Johlige (Linke) bereits jetzt schalten und walten, wie sie möchte. Unten in der Kneipe darf sie das erst ab Januar – besser gesagt: dann muss sie das tun. Denn es war ursprünglich nicht ihre Absicht, nach ihrem Ausscheiden aus dem Landtag Gastwirtin zu werden. Nachdem die Linksfraktion nach einem Ergebnis von lediglich noch drei Prozent bei der Landtagswahl im September 2024 liquidiert werden musste, hat Johlige bis vor wenigen Wochen Übergangsgeld bezogen. Jetzt hätte sie eigentlich in ihrem alten Beruf als Mediengestalterin arbeiten, Jugendweihefeiern fotografieren und Werbeprospekte gestalten wollen.

Die Kneipe »Zur goldenen Kugel« hat sie vor der drohenden Schließung bewahrt. Die alte Inhaberin, die oben in der Wohnung und zuletzt im Pflegeheim lebte, war verstorben. Der Sohn wollte das Haus verkaufen. Johlige erwarb die Immobilie. Sie hatte das Geld übrig durch den Verkauf ihres alten Hauses in Elstal im Berliner Speckgürtel. Von dort ist sie bereits vor der Landtagswahl nach Fürstenberg/Havel weit im Norden an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern gezogen. Johlige malte sich aus, über der Kneipe ihr Fotostudio einzurichten. Die 48-Jährige ging davon aus, dass die bisherige Pächterin und deren Mann noch mindestens zwei Jahre weitermachen. Nun wollen sie aber bereits Ende des Jahres aufhören. Johlige gestand sich ein, dass sie so schnell keinen neuen Pächter finden werde. Sie entschied deshalb, sich ab Januar selbst hinter den Tresen zu stellen – gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Andreas Intress, der seit 23 Jahren den mittlerweile einzigen Fahrradladen der Kleinstadt betreibt und den er auch weiter betreiben wird. Ganz unerfahren ist Johlige nicht im Gastgewerbe. Das Bierzapfen lernte sie als junge Frau in ihrem ersten Nebenjob in ihrer Heimatstadt Dessau. Johlige ist bewusst, dass es ein »Knochenjob« ist. »Aber trotzdem freue ich mich darauf.«

Was sie im Jahr 2029 sein wird? »Gastwirtin in der ›Goldenen Kugel‹«, sagt Johlige ohne Zögern. Sie versteht die Frage. Spätestens in vier Jahren wird in Brandenburg ein neuer Landtag gewählt. Doch sie werde nicht wieder kandidieren, versichert Johlige. Das habe sie bereits am Wahlabend so für sich beschlossen. Daran würde sich nichts ändern, falls die Landtagswahl vorgezogen wird, wenn die Koalition aus SPD und BSW zerbricht. »Nach drei Prozent müssen neue Leute ran«, meint Johlige mit Blick auf die bittere Schlappe im September 2024. Hätte ihre Partei die Fünf-Prozent-Hürde damals knapp übersprungen, so wäre Andrea Johlige heute noch Abgeordnete. Sie stand auf Listenplatz fünf. Es wäre dann aber ihre letzte Legislaturperiode gewesen, sagt sie. Ein viertes Mal wäre sie nicht mehr angetreten. So aber war dieses Kapitel für sie nach zehn Jahren beendet. Mit der Landespolitik hat sie abgeschlossen, in die Bundespolitik strebte sie nie.

Höchstens kommunalpolitisch könne sie sich noch was vorstellen, sagt die 48-Jährige. Bei der Kommunalwahl im Juni 2024 hatte sie für die Stadtverordnetenversammlung von Fürstenberg/Havel kandidiert und von den Bewerbern der Linken die zweitmeisten Stimmen erhalten. Das insgesamt bescheidene Ergebnis der Partei reichte jedoch nur für einen Stadtverordneten – und das ist jetzt ihr Geschäftspartner Andreas Intress. Zusammen bilden sie übrigens die Doppelspitze im Ortsverband der Linken.

Ihre kurzen Haare färbte Johlige seit der Landtagswahl nicht weiter rot. Die Frisur war jahrelang ihr Markenzeichen. So ein Wiedererkennungswert ist für eine Politikerin etwas wert. Aber nun sei es Zeit für etwas Neues gewesen, sagt Johlige. Sie trägt nun ihre echte Haarfarbe, die sie lachend als »vornehmes Business-Grau« beschreibt. Innen ist sie rot geblieben. Sie bleibt ihrer Partei treu, obwohl sie mit deren Kurs durchaus hadert. Beispielsweise die Konzentration auf Hochburgen in den Großstädten unter Preisgabe ländlicher Regionen hielt sie nie für die richtige Strategie.

Wie nicht wenige Stammgäste ihrer Kneipe denken, kann ermessen, wer weiß, dass die AfD bei der Bundestagswahl im Februar 2025 in Fürstenberg/Havel 35,5 Prozent der Stimmen erhalten hat. Aber auch der linke Stadtverordnete Intress trinkt hier sein Feierabendbier. Es ist eine »Kneipe für alle«, wie Johlige sagt. Vielleicht mit einer Einschränkung: Es kommen doch überwiegend diejenigen, die mit einer schmalen Rente klarkommen oder die sich ihr Brot mit harter Arbeit sauer verdienen müssen oder die ihren Job irgendwann verloren haben. Das kleine Bier ist mit 2,10 Euro für sie bezahlbar und so soll es bleiben.

Soweit sich das heute noch recherchieren lässt, war das Gasthaus »Zur goldenen Kugel« in den zurückliegenden 100 Jahren eine Arbeiterkneipe und kein bevorzugter Treffpunkt der bessergestellten bürgerlichen Kreise. Johlige wälzte alte Zeitungen, um dies und noch viel mehr herauszufinden. Sie hat so die Geschichte der Kneipe erforscht, die mindestens seit 1910 existiert und wahrscheinlich schon länger. Johlige verfasste dazu eine 28 Seiten lange Broschüre, die noch nicht veröffentlicht ist. Zu DDR-Zeiten sei es Erinnerungen zufolge oft so voll gewesen, dass die Biergläser über die Köpfe der Gäste hinweg durchgereicht werden mussten, berichtet sie.

Die Broschüre soll nicht das einzige Ergebnis der Recherchen sein. Johlige möchte die Kneipe mit historischen Ansichten neu dekorieren. Damit nicht genug, will sie auf dem Hof einen Biergarten einrichten und am 1. Mai unter dem Absingen von Arbeiterliedern eröffnen. Die Tradition der Bockbierfeste möchte sie wiederbeleben. Das erste dieser Feste hatte es 1926 in der »Goldenen Kugel« gegeben. Schließlich wird die neue Wirtin auch Oktoberfeste einführen und dabei im Dirndl servieren. So ein Dirndl hängt seit ungefähr 20 Jahren in Andrea Johliges Kleiderschrank. Sie hat es bisher nur einmal getragen bei einem Betriebsausflug der Rechtsanwaltskanzlei ihres damaligen Ehemanns zum Münchner Oktoberfest.

»Am 1. Januar um 00.01 Uhr machen wir auf.«

Andrea Johlige Kneipenwirtin in spe

»Am 1. Januar um 00.01 Uhr machen wir auf«, verspricht Johlige. Die Stammgäste sollen nicht auf ihren Treffpunkt verzichten müssen. Eine andere klassische Bierkneipe gibt es nicht mehr in der Kleinstadt Fürstenberg/Havel. Im Land Brandenburg haben viele Dorfkneipen erst die Wende und dann zuletzt die Corona-Pandemie nicht überlebt. Gestiegene Energie- und Lebensmittelpreise sowie Personalmangel taten ein Übriges. Gastwirte haben kaum noch eine Chance, wenn ihnen das Haus nicht gehört und sie nicht gemeinsam mit Angehörigen den Laden schmeißen.

Von 4101 gastronomischen Niederlassungen im Jahr 2010 sind in Brandenburg im Jahr 2023 nur noch 3697 übrig gewesen. Besonders erwischt hat es die Schankwirtschaften, bei denen ein Minus von 32,5 Prozent zu verzeichnen war. Deshalb hatte die CDU jetzt im Landtag beantragt, ein Förderprogramm für Dorfkneipen aufzulegen und dafür mindestens 7,5 Millionen Euro vorzusehen. Damit sollten gezielt kleine Gaststätten, Gasthöfe und Cafés in ländlichen Regionen unterstützt werden. Jeweils bis zu 150 000 Euro Zuschuss beispielsweise für Modernisierungen sollten ihnen gewährt werden.

»Kneipen sind Heimat, sind Tradition«, begründete der Abgeordnete Frank Bommert den Vorstoß. Seiner CDU-Fraktion zufolge sind Dorfgaststätten »das Rückgrat des gesellschaftlichen Zusammenhalts im ländlichen Raum«. Ohne sie fehle ein Ort für Familienfeiern, Stammtisch und Vereinsleben. Das Parlament lehnte den Antrag am Donnerstag allerdings ab. Andrea Johlige bedauert das.

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