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»Nur mit einem Knall kann man das BaföG-Problem lösen«
Thüringens Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Teichert erzählt, wie er den Antragsstau abbauen will
Herr Teichert, seit Sie Hochschulstaatssekretär in Thüringen sind: Wie viele schlaflose Nächte hatten Sie, weil die Bearbeitung von BaföG-Anträgen in Thüringen so lange dauert?
Natürlich ist mir dieses Thema überhaupt nicht egal. Sämtliche E-Mails, die unser Haus erreichen oder von hier aus rausgehen und mit dem Thema BaföG zu tun haben, gehen auch über meinen Schreibtisch. Das mache ich nicht zum Spaß, aber auf diese Art und Weise habe ich einen sehr guten Überblick über das Thema. Ich sehe deshalb auch sämtliche Beschwerden über zu lange Bearbeitungszeiten, die uns erreichen. Das kann einen nicht kaltlassen. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass in den vergangenen Monaten vor allen Dingen die Extremfälle hell ausgeleuchtet worden sind, auch in den Medien. Bei allen berechtigten Klagen und Protesten ist nicht jeder BaföG-Empfänger gleich in seiner Existenz bedroht, wenn sein Antrag länger bearbeitet wird.
Wie meinen Sie das? Für viele junge Menschen geht es mit dem BaföG um die Frage, ob sie ihre Miete bezahlen können?!
Bei vielen Studierenden stimmt das. Aber eben nicht bei allen. Sie dürfen nicht vergessen, dass BaföG-Bezug bei zehn Euro pro Monat anfängt und bei etwas über 1000 Euro monatlich aufhört. Das ist die Spanne. Wenn also jemand einen Anspruch auf zehn oder 20 Euro pro Monat hat, dann gerät der nicht in existenzielle Not, wenn er auf dieses Geld länger warten muss. Das Geld wird ja auch nachgezahlt. Trotzdem ist unbestreitbar, dass wir mit den langen Bearbeitungszeiten ein großes Problem haben, das gerade junge Menschen extrem belastet. Ich will da nichts schönreden.
Haben Sie den Eindruck, dass denjenigen, die BaföG-Anträge bescheiden, auch klar ist, was es für junge Menschen bedeutet, wenn über ihre Anträge lange nicht entschieden wird, dass sie deshalb nachts wach liegen und sich fragen, wie sie die Miete für ihr vielleicht erstes, eigenes Zimmer bezahlen sollen?
Den Vorwurf, die Sachbearbeiter würden zu langsam arbeiten und deswegen seien wir jetzt in dieser Misere, halte ich für völlig unangebracht. Bei den BaföG-Sachbearbeitern ist es wie bei allen Sachbearbeitern in der Verwaltung, die sich um die Gewährung von Sozialleistungen kümmern: Sie müssen sich an Gesetze halten und dürfen nicht vergessen, dass ihnen Menschen gegenübersitzen, die Anträge stellen. Diesen Spannungsbogen auszuhalten, ist nicht leicht.
Wenn es also nicht die Arbeitsgeschwindigkeit der Sachbearbeiter ist, was hat dann dazu geführt, dass Thüringer Studierende heute so lange darauf warten müssen, bis ihr BaföG-Antrag beschieden wird?
Wir haben in den vergangenen fünf Jahren in Thüringen eine Verdoppelung der BaföG-Antragszahlen zu verzeichnen. Bei den Sachbearbeitern hatten wir aber keinen Personalaufwuchs um den Faktor zwei. Dadurch ist die durchschnittliche Bearbeitungszeit von Studienjahr zu Studienjahr immer größer geworden. Im Jahr 2019 lag sie noch bei 3,6 Monaten; heute sind es 6,3 Monate. Viele Menschen, die wir einstellen konnten, haben wieder aufgegeben, weil sie nicht permanent im Krisenmodus arbeiten wollten. Das ist Punkt eins. Dazu kommt, dass wir mit den Studierenden der Internationalen Hochschule in Erfurt inzwischen viele BaföG-Antragsteller haben, deren finanzielle Verhältnisse sehr komplex sind. Das liegt daran, dass deren Studierende oft mitten im Leben stehen, schon Vermögen haben. Dadurch ist die Prüfung, ob diese Menschen einen Anspruch haben, deutlich zeitaufwendiger als bei Menschen, die gerade aus der Schule gekommen sind. Punkt drei: In den vergangenen Jahren sind wir den Schritt von der analogen Bearbeitung von BaföG-Anträgen hin zur weitgehend digitalen Bearbeitung gegangen. Und wie bei allen Digitalisierungsprojekten ist dadurch erst mal zusätzliche Arbeit entstanden, die uns bei der Bearbeitung der BaföG-Anträge noch weiter ausgebremst hat.
Was im Umkehrschluss bedeutet, dass Sie von diesem Antragsstau so schnell nicht wieder runterkommen werden, wenn Sie da jetzt einen oder zwei Sachbearbeiter zusätzlich einstellen, oder?
Mit ein oder zwei zusätzlichen Sachbearbeitern ist da gar nichts getan. Trotzdem sind wir auf einem guten Weg, den Stau mit einer konzertierten Aktion tatsächlich und nachhaltig abzubauen. Dazu haben wir zwei ganz konkrete Maßnahmen umgesetzt: Einmal werden wir bei denjenigen, die schon mal BaföG bekommen haben, vorläufige Bescheide erstellen und ihnen auf dieser Grundlage Geld auszahlen. Bei ihnen kann man aus der Aktenlage relativ gut abschätzen, in welcher Höhe ihr BaföG-Anspruch auch gegenwärtig liegt. Häufig fehlt da ja nur ein einzelner Nachweis für die Verlängerung. Davon werden ungefähr 2000 Fälle profitieren.
Und die zweite Maßnahme?
Wir werden ab Januar zusätzliche Sachbearbeiter einsetzen, um den Berg von unbearbeiteten Anträgen systematisch abzubauen. Derzeit stehen uns etwa 60 Vollzeitstellen zur Verfügung. Ab 2026 werden wir vorübergehend 30 weitere Vollzeitstellen nutzen.
Sie stellen 30 zusätzliche Sachbearbeiter ein, um den Antragsstau abzuarbeiten?
Wir stellen niemanden ein. Wir arbeiten mit einem externen, verwaltungsaffinen Personaldienstleister zusammen. Nur mit einem solchen Knall kann man das Problem wirklich lösen, davon bin ich fest überzeugt.
Haben Sie das mal hochgerechnet? Wann wollen Sie so mit der Bearbeitungsdauer wieder bei einer vertretbaren Größenordnung gelandet sein?
Ich gehe davon aus, dass wir das Thema im Herbst des nächsten Jahres gelöst haben werden.
Mit einer dann durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von wieder etwa drei Monaten?
Es ist total schwierig, da eine genauere Voraussage zu treffen. Es wird im nächsten Jahr eine BaföG-Novelle geben, für die der Bund verantwortlich ist. Es kann sein, dass wir da Rahmenbedingungen bekommen, durch die die Zahl der BaföG-Anträge noch einmal steigt. Es kann aber auch ganz anders werden. Das weiß ich nicht. Deshalb ist überhaupt nicht vorhersehbar, wie lange wir ab Herbst 2026 brauchen werden, einen Antrag zu bearbeiten. Ich kann ihnen aber versprechen, dass wir anders als die Vorgängerregierung nicht jahrelang warten werden, wenn sich dann erneut abzeichnen sollte, dass wir einen Antragsberg aufbauen. Und wir werden den Bund bei der Gesetzgebung unterstützen, damit eine Verwaltungsvereinbarung herauskommt, mit der wir als Länder sinnvoll und unbürokratisch arbeiten können.
Gibt es denn beim BaföG Punkte, die die Antragstellung und Bewilligung unnötig kompliziert und langwierig machen?
Es gibt auf jeden Fall mehrere Fragen, die man sich im Zuge einer BaföG-Reform stellen sollte. Zum Beispiel, inwieweit man eine digitale Beantragung erzwingen und nur noch in Ausnahmefällen einen Antrag auf Papier zulassen kann. Oder auch die Frage, ob man mit Pauschalierungen weiterkommt als bislang.
Pauschalierungen?
Da geht es häufig um Nachweise von Elterneinkommen. In ganz vielen Fällen warten Menschen auf ihren BaföG-Bescheid, weil nicht alle Nachweise vorgelegt worden sind, die es derzeit aber braucht, um einen solchen Antrag entscheiden zu können. Sehr häufig passiert das in Familien, in denen die Eltern getrennt leben. Da haben wir häufig Fälle, dass junge Menschen auf jeden Fall auf BaföG angewiesen sind, es aber so lange nicht bekommen können, bis beide Elternteile ihre Einkommensnachweise vorgelegt haben – ein Elternteil aber schlicht und einfach nichts liefert. Hier mit pauschalen Annahmen zu arbeiten, wäre vielleicht eine Lösung, um zu schnelleren Bescheiden zu kommen.
Was halten Sie von der Idee, allen Studierenden elternunabhängiges BaföG zu bezahlen?
Das ist eine äußerst schwierige Frage, weil sie viel mit Chancengerechtigkeit zu tun hat. Aber es ist auch ganz einfach: Ich kann mir im Moment überhaupt nicht vorstellen, dass das finanzierbar wäre. Da müssten gewaltige Summen bewegt werden, um das zu erreichen. Woher das Geld dafür kommen sollte, erschließt sich mir derzeit überhaupt nicht.
Nun sollte man eigentlich meinen, dass die Beantragung von BaföG eine Verwaltungsdienstleistung ist, die sich sehr gut digitalisieren ließe. Offensichtlich ist das nicht so. Was lernen wir also aus Ihren Erfahrungen mit der digitalen BaföG-Antragstellung und -Bearbeitung über die Grenzen der Digitalisierung in Ämtern und Behörden?
Ich würde gerne ihre Feststellung relativieren, dass die digitalisierte BaföG-Beantragung und -Bearbeitung angeblich nicht funktioniert. Das sehe ich nicht so. Es gab einige Startschwierigkeiten, aber das ist bei der Digitalisierung überall so. Wenn sie eine Software neu einführen, dann ist es selten so, dass die von Anfang an vollständig funktioniert. Diese Startschwierigkeiten sind aber inzwischen behoben und wir werden bei der digitalen Arbeit immer besser. Ich gehe deshalb fest davon aus, dass wir – insbesondere bei jungen Menschen, die noch kein Vermögen haben – in Zukunft mit Automatismen sehr schnell bis fast zum vollständigen Bescheid kommen werden.
Trotzdem ist es doch unbestreitbar so, dass bei allem, was mit Digitalem zu tun hat, der Staat, den technischen Möglichkeiten vieler Privatanwender und erst recht deren der Wirtschaft um mindestens zehn Jahre hinterherhinkt. Warum?
Weil bei der öffentlichen Hand die Ressourcen nicht da sind, um schnell und speziell genug Dinge zu entwickeln oder am Markt verfügbare Produkte einzuführen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben aus der Zeit, als ich noch Präsident der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena war: Damals war es total schwierig für die Gehälter, die Sie im öffentlichen Dienst zahlen können, IT-Spezialisten zu finden. Ich habe ewig gesucht …
Aber trotzdem halten Sie an dem Ziel fest, den Antragsstau beim BaföG in Thüringen bis zum Herbst 2026 gelöst zu haben?
Ja.
Wird sich die Brombeerlandesregierung daran auch messen lassen?
Ich würde ihnen dazu gerne in einem Jahr Bericht erstatten.
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