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Wenn Schwarzfahren ins Gefängnis führt

Rund 9000 Menschen verbüßen in Deutschland eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Fahrens ohne Ticket – manche werden vom Freiheitsfonds freigekauft

  • David Bieber
  • Lesedauer: 7 Min.
Fahrkartenautomat am Kölner Hauptbahnhof: Für manche bleibt das Ticket unerschwinglich.
Fahrkartenautomat am Kölner Hauptbahnhof: Für manche bleibt das Ticket unerschwinglich.

Im Besucherraum der JVA Siegburg ist es kühl. An einem kleinen Tisch in dem kargen Raum sitzt ein Mann mit kurz geschorenen Haaren, die Hände gefaltet vor sich. Er trägt einen dunkelgrünen Pullover, lächelt freundlich – und wirkt doch verloren. Seine leicht gebückte Haltung lässt ihn kleiner erscheinen, als er ist. Draußen, im schnellen Rhythmus der Stadt, würde man ihn vermutlich übersehen.

Jens C. sitzt seit anderthalb Jahren hier ein – wegen wiederholten Fahrens ohne Fahrschein. Seit Jahren steigt er in Wuppertal in die Schwebebahn, ohne ein Ticket zu haben. »Mittel zum Zweck«, sagt er. Wenn er zum Arzt musste, kein Fahrrad hatte und der Weg zu weit war, sei er einfach eingestiegen. »Weil ich kein Geld hatte.« Als Obdachloser schlägt der 40-Jährige sich schon lange durch und ist auch suchtkrank. »Im Knast nehme ich an einem Methadonprogramm teil«, sagt er und ergänzt: »Früher habe ich auch andere Dinge gemacht. Dann hat aber mein Alter mir gesagt, ich solle nur noch schwarzfahren.«

Mehr als ein Dutzend Mal ist er kontrolliert worden. »Die kennen mich schon«, sagt er trocken. Zahlen konnte er das erhöhte Beförderungsentgelt nie – 60 Euro pro Verstoß –, und so landete er immer wieder im Gefängnis. Dazu kamen kleinere Diebstähle. »Zehnmal war ich schon im Knast«, sagt er leise, fast tonlos. »Man gewöhnt sich dran. Es ist immer gleich hier.« Halt findet er in der Holzwerkstatt und im Kraftraum. Aber am 27. November wird er entlassen. Er zählt die Tage.

Bundesweit verbüßen rund 9000 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Schwarzfahrens.
Bundesweit verbüßen rund 9000 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Schwarzfahrens.

Draußen freut er sich auf seine alten Freunde. Er beteuert, straffrei bleiben zu wollen – und nicht mehr ohne Ticket zu fahren. Doch er kennt auch die Realität. Der Winter steht bevor. Wenn er zur Substitution muss, wenn Behördengänge anstehen oder wenn er einfach friert, ist die Versuchung groß, doch in die Bahn zu steigen. »Laufen hält gesund«, sagt er und verzieht den Mund zu einem schmalen Lächeln. Aber er weiß, wie weit die Wege sind – und wie klein sein Kontostand.

Menschen wie er landen besonders häufig wegen Schwarzfahrens in Haft. Das zeigt eine Studie der Kölner Kriminologin Nicole Bögelein: Die meisten Ersatzfreiheitsstrafen treffen Personen ohne festen Job; rund ein Drittel ist suchtkrank, mehr als zwölf Prozent leben auf der Straße. Auch Jens C. gehört zu ihnen – und sitzt nun gemeinsam mit Männern ein, die weit schwerere Straftaten begangen haben.

Initiative für Straffreiheit

Um das zu verhindern, gibt es Initiativen, die das abschaffen wollen. Selbst die Justizministerin des Bundes, Stefanie Hubig (SPD), hatte schon mal darüber nachgedacht, den seit 90 Jahren geltenden Paragrafen 265a des Strafgesetzbuches zu ändern. Erst kürzlich hatte der Bundestag in erster Lesung über einen Gesetzentwurf der Linksfraktion zur »Straffreiheit für Fahren ohne Fahrschein« beraten. Kommt nun wieder Bewegung in die Sache?

Die Verkehrsunternehmen haben wenig Interesse daran, das Schwarzfahren als bloße Ordnungswidrigkeit zu behandeln. In vielen Städten erstatten sie erst nach mehreren Verstößen eine Strafanzeige. »Wenn ein Fahrgast innerhalb von zwei Jahren dreimal ohne gültiges Ticket kontrolliert wurde, stellen wir Anzeige«, sagt etwa ein Sprecher der Berliner Verkehrsbetriebe. Den Unternehmen entgehen durch das »Erschleichen von Leistungen« Schäden in Millionenhöhe.

Auch die Duisburger Verkehrsbetriebe sehen das so. Ein Sprecher betont, dass ehrliche Fahrgäste über die Ticketpreise für Schwarzfahrer mit aufkommen müssten. Zudem gehe die abschreckende Wirkung einer möglichen Freiheitsstrafe verloren. »Das kann ich zwar nachvollziehen«, meint Jens C., »aber ich denke, es wäre besser, wenn Schwarzfahren straffrei würde.« In einigen Städten findet bereits ein Umdenken statt: Köln, Bonn, Münster und Düsseldorf verzichten inzwischen darauf, Strafanzeigen zu erstatten.

Dennoch verbüßen in Deutschland nach Schätzungen der Organisation Freiheitsfonds weiterhin rund 9000 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Schwarzfahrens. Eine offizielle Statistik zum Delikt gibt es nicht. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen veröffentlichte vor sieben Jahren eine Zahl: Damals hatten drei Prozent der angezeigten Schwarzfahrer eine Freiheits- oder Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt. Manche Beobachter gehen davon aus, dass die Zahl dieser Strafen angesichts zunehmender Armut steigt. Der Duisburger Richter Hendrik Thome befasst sich seit Langem mit dem Thema. Er setzt sich – ebenso wie etwa die Organisation Freiheitsfonds – für eine Entkriminalisierung des Paragrafen 265a ein. »Erschleichen von Leistungen ist ein Delikt der Armen. Gerade Menschen mit wenig Geld nutzen überwiegend den öffentlichen Nahverkehr.«

Doch wie kommt es dazu, dass jemand wegen eines vermeintlichen Kavaliersdelikts überhaupt in Haft landet? »Wer arm ist, kann das erhöhte Beförderungsentgelt von 60 Euro häufig nicht bezahlen und wird deshalb schneller angezeigt«, erklärt Thome. Melden sich Betroffene im Strafverfahren nicht rechtzeitig zurück, wird das Verfahren nicht wegen Geringfügigkeit eingestellt, sondern meist per Strafbefehl geahndet.

So war es auch bei Jens C., der eine Notschlafstelle nutzte und keine Meldeadresse hatte. Woran er sich kaum erinnert, ist, wie er überhaupt von der Strafanzeige erfuhr. Im schriftlichen Strafbefehlsverfahren seien die Angeklagten weitgehend auf sich gestellt, sagt Thome. Kein Richter sieht die Betroffenen, die sich kaum wehren könnten. Die Einspruchsfrist dauert nur zwei Wochen – danach gilt man als verurteilt. »Oft bekommen die Verurteilten erst mit der Ladung zum Strafantritt wirklich mit, was passiert ist.«

Auch Jens C. kennt das. »Ich weiß, wie das hier alles abläuft.« Das klingt nach bitterer Routine: Er hat bereits viele Jahre in Haft verbracht.

Teure Bestrafung

Für den Staat lohnt sich die Ersatzfreiheitsstrafe kaum. Ein Tag Haft kostet rund 200 Euro – deutlich mehr als die ursprüngliche Strafe. Das ist für viele ein starkes Argument für die Entkriminalisierung. Der Freiheitsfonds verweist auf eine Umfrage von Infratest dimap aus dem Jahr 2023, wonach mehr als zwei Drittel der Bevölkerung (69 Prozent) die Abschaffung von Haftstrafen wegen fehlender Tickets befürworten.

Wie teuer die aktuelle Praxis ist, zeigt auch der Fall von Jens C. »Allein der Gefängnisaufenthalt – insgesamt 615 Tage – hat den Staat rund 123 000 Euro gekostet«, rechnet Leonard Ihßen vom Freiheitsfonds vor. Hochgerechnet entstehen jährlich etwa 120 Millionen Euro an Steuergeldern – nur für die Verfolgung und Inhaftierung von Menschen, die ohne Ticket Bus oder Bahn gefahren sind.

Trotzdem findet Jens C. es richtig, dass er im Gefängnis sitzt. Er müsse schließlich für das büßen, was er getan habe, sagt er. Trotzdem wurde er vom Freiheitsfonds ausgelöst. »Die Sozialarbeiterin in der Haft hat uns auf seinen Fall aufmerksam gemacht«, erklärt Ihßen. Hilfesuchend habe sie sich an ihn gewandt und um seinen Freikauf gebeten. Am Telefon habe sie gesagt: »Der ist hier völlig falsch«, erzählt Ihßen.

Stichtag zum Freikaufen

Da Jens C. zusätzlich eine Freiheitsstrafe wegen anderer Delikte verbüßen musste, konnte der Freiheitsfonds lediglich seine letzte, als Geldstrafe verhängte Verurteilung begleichen – und ihn so früher aus der Haft holen. Für 1050 Euro, finanziert aus Spenden, kommt er frei. Nach eigenen Angaben hat der Freiheitsfonds bislang mehr als 1500 Menschen aus dem Gefängnis ausgelöst. »Am 27. November ist der nächste Stichtag. Neben Herrn C. kommen deutschlandweit weitere 100 Menschen frei«, sagt Leonard Ihßen. Der Fonds habe dem Staat durch diese Freikäufe bereits rund 21 Millionen Euro an Steuergeldern erspart.

Die Debatte ist eng mit der Frage der Verkehrswende verknüpft. Der Freiheitsfonds fordert neben der Entkriminalisierung des Schwarzfahrens einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr in Deutschland – ähnlich wie in Teilen Skandinaviens. Dass die Mittel, die heute für Strafverfolgung und Inhaftierung ausgegeben werden, besser in den Ausbau des Nahverkehrs fließen sollten, scheint vielen plausibel. Ob die Politik das Thema anpackt oder ob Menschen wie Jens C. weiterhin im Gefängnis landen, bleibt offen.

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