Der erste und der dritte Weltkrieg

Wie eine Explosion in Kosovo einen Flächenbrand auslösen könnte

  • Lesedauer: 6 Min.
Seit dem 10. Dezember stehen die Zeichen in Kosovo wieder auf Sturm: Nach dem Scheitern der Verhandlungen über den Status der Provinz wollen die Albaner weg von Serbien und einen eigenen Staat ausrufen. Belgrad will das mit allen Mitteln verhindern, die NATO hat ihre Truppen in der Region verstärkt und in Alarmbereitschaft versetzt. Der Konflikt könnte zu einem Flächenbrand werden, befürchtet JÜRGEN ELSÄSSER in seinem neuen, hochaktuellen Buch.

»Woher kommen diese Albaner eigentlich?«, fragte Otto von Bismarck, der deutsche Kanzler, auf der Berliner Balkankonferenz 1878. »Wir sind eine kleine Fliege, die der ganzen Welt den Magen umdrehen wird«, antwortete der türkisch-albanische Diplomat Abdullah Fraseri. Bekanntlich kam es nicht genauso, aber ähnlich: Nicht Albanien, wohl aber eine benachbarte Provinz des Osmanischen Reiches war der Zündfunke für den Ersten Weltkrieg.

Deutschland und die anderen Großmächte hatten 1878 einen Formelkompromiss bei der Neuordnung Südosteuropas gefunden: Bosnien sollte de jure weiterhin türkisch bleiben, de facto aber von den Österreichern verwaltet werden. 1908 brach Wien diesen Vertrag und annektierte die Provinz auch de jure. Aus Rache wurde 1914 Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo erschossen, der Auftakt zum Ersten Weltkrieg.

Ungefähr 100 Jahre später versuchten es die NATO-Mächte mit einem ähnlichen Formelkompromiss: Nach ihrem Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 setzten sie im UN-Sicherheitsrat die Resolution 1244 durch, die das Kosovo de jure dem südslawischen Staat belässt, de facto aber der Verwaltung den Vereinten Nationen unterstellt. In der Folge befürworteten die Westmächte jedoch die vollständige Abtrennung der Provinz und ihre von der EU kontrollierte Übergabe an die albanische Bevölkerungsmehrheit. Dies wäre völkerrechtlich möglich, sofern entweder Belgrad zustimmt oder wenigstens der UN-Sicherheitsrat eine solche Lösung billigt. Wenn beide Bedingungen nicht gegeben sind, kann sich das Kosovo nur einseitig, also durch einen Akt illegaler Willkür, zu einem selbstständigen Staat erklären.

Genau dies hat US-Präsident George W. Bush im Mai 2007 in Tirana vorgeschlagen. Was passiert, wenn dieser völkerrechtswidrige Plan durchgesetzt wird und die Albaner in der Folge beginnen, ihren neuen Staat von den noch verbliebenen Serben und anderen Minderheiten – etwa 100 000 Menschen – zu säubern? Vielleicht das: An einem schönen Sommertag rücken russische Eliteeinheiten aus dem nahen Bosnien über die Drina und erreichen in den frühen Morgenstunden Pristina, die Hauptstadt des Kosovo. Ein paar hundert Serben, die sich vor den Pogromen unter den Schutz der UN gerettet haben, säumen die Einfallstraßen und schmücken die Panzer mit Rosen, bieten den slawischen Brüdern Brot und Salz, den traditionellen Gruß. Doch die stählernen Kolosse rasseln weiter, hinaus auf den Flughafen der Stadt, besetzen das Rollfeld. Im NATO-Hauptquartier in Brüssel ist man von dem Coup überrascht, im Oval Office lässt sich der Präsident das Rote Telefon bringen. Doch ihr Gesprächspartner im Kreml lässt sich verleugnen, die Lage bleibt unklar.

Ist der Handstreich eine Aktion der sowjetisch geprägten Generalität, gar der Auftakt zu einem Putsch der alten Garde? Nach zwei Stunden hektischer Konferenzen ist die Antwort des Nordatlantikpaktes klar: Britische Truppen aus dem Kosovo-Korps EUFOR kesseln den Flughafen von Pristina ein und fordern den russischen Kommandanten zur Übergabe auf. Nach Ablauf des Ultimatums stürmen Fallschirmjäger den Tower, Apache-Hubschrauber schalten die Artillerie des Gegners aus. CNN verbreitet gerade die Nachricht über die »Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung im Kosovo«, als das U-Boot Wladiwostok, das sich in der Adria auf Tauchfahrt befand, zwei Marschflugkörper auf den kosovarischen US-Stützpunkt Bondsteel abschießt. Der US-Präsident besteigt die Airforce One und gibt der Sechsten Flotte den Befehl, ihre Ankerplätze im Mittelmeer zu verlassen und durch die Dardanellen vorzustoßen, Kurs auf die russische Schwarzmeerküste.

Eine Zukunftsgeschichte? Nur zum Teil. Die beschriebene Eskalation hat bereits begonnen, und zwar am 10. Juni 1999. Nach der Kapitulation der jugoslawischen Armee im Kosovo sind tatsächlich russische Truppen aus Bosnien nach Pristina vorgerückt. Auf ihren Fahrzeugen hatten die Soldaten die Aufschrift SFOR, die sie als Teil der UN-mandatierten Stabilisierungstruppe im Nachbarstaat auswies, hastig zu KFOR umgepinselt. KFOR, das war die gerade erst beschlossene Besatzungsstreitmacht für das Kosovo. Der russische Präsident Boris Jelzin hatte zugestimmt, dass sie unter dem Oberbefehl der NATO gebildet wurde – doch seine Generäle wollten wenigstens dafür sorgen, dass Russland einen strategischen Brückenkopf erhielt.

Ex-Außenminister Fischer berichtet in seinen Memoiren, wie dramatisch die Situation war: »Die wenigen russischen Fallschirmjäger konnten die NATO nach deren Einmarsch im Kosovo nicht wirklich herausfordern, dazu war ihre Zahl zu gering und ihre Bewaffnung zu leicht. Die Besetzung des Flughafens konnte gleichwohl nichts anderes heißen, als dass sie aus Russland eintreffende Verstärkung aus der Luft erwarteten, und daraus konnte sich sehr schnell eine sehr gefährliche direkte Konfrontation mit den USA und der NATO entwickeln ... Die Situation wurde noch gefährlicher, als die Nachricht bestätigt wurde, dass die russische Regierung um Überflugrechte für Antonow-Truppentransporter bei den Regierungen in Ungarn, Rumänien und Bulgarien nachgesucht hatte. Es bestand die Absicht, 10 000 Soldaten auf dem Luftweg in das Kosovo oder auch nach Bosnien zu verlegen, um von dort über den Landweg ins Kosovo zu gelangen. Die Ukraine hatte die Überflugrechte bereits erteilt, aber die anderen Regierungen blieben unerschütterlich bei ihrem Nein. Was aber, wenn die russischen Maschinen dennoch fliegen würden? Würden die USA und die NATO sie dann an der Landung hindern? Oder an der Entladung am Boden? Oder die Flugzeuge gar in der Luft abschießen? Hier zeichnete sich die Möglichkeit eines Dramas mit unabsehbaren Folgen ab.«

Parallel zum Nervenkrieg um die russischen Flugzeuge spitzte sich die Krise am Flughafen Pristina zu. Die schnell nachrückenden Truppen des britischen KFOR-Kontingents hatten die Kanonen auf die renitenten Besatzer des Flugplatzes gerichtet, NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark gab die Order zum Sturmangriff – da bewahrte ein Mann seine Kaltblütigkeit und verweigerte den Befehl. Michael Jackson, der britische Oberkommandeur der KFOR, brüllte den US-Amerikaner am Telefon an: »Ich werde doch für Sie nicht den Dritten Weltkrieg riskieren.« Wie der Westen Präsident Jelzin dazu brachte, die Antonow-Truppentransporter zu stoppen, ist nicht bekannt. Das Gefecht um den Flughafen Pristina wurde jedenfalls nur verhindert, weil Jackson standhaft blieb. Clark nahm den Ungehorsam hin, eigentlich hätte er den Befehlsverweigerer von der Militärpolizei festnehmen lassen müssen. Ein deutscher General hat das im Nachhinein kritisiert. »Das schwächliche Zurückweichen von Briten und Amerikanern war sicher die falsche Antwort in einer Situation, die niemals zu einem ernsten Konflikt zwischen der NATO und Russland geführt hätte«, schrieb Klaus Naumann, damals Vorsitzender des NATO-Militärausschusses und damit höchster europäischer Offizier im Bündnis.

Wenn sich Belgrad und Moskau einer völkerrechtswidrigen Abspaltung des Kosovo widersetzen oder zu Hilfe eilen, falls es nach Proklamation einer Republik Kosova zu großen Pogromen kommt, wird sich den NATO-Militärs in der Region schnell dieselbe Frage stellen wie Jackson: Sollen wir auf Russen und Serben schießen und so den Dritten Weltkrieg riskieren? Dann kann man nur beten, dass Generale wie Wesley Clark und Klaus Naumann nicht das Kommando haben.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag aus Jürgen Elsässer, »Kriegslügen. Der Nato-Angriff auf Jugoslawien« (Kai Homilius, 200 S., 12,80).

Buchpremiere mit dem Autor am Freitag, dem 21. Dezember, 19.30 Uhr, in der Serbisch-Orthodoxen Kirche, Ruppinerstraße 28, Berlin-Wedding.

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