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Soziales Pflichtjahr: Spazieren mit den Superreichen
Christoph Ruf plädiert für ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen
Reisen bildet – vor allem meine Meinung über weite Teile der Generation Z. Am Sonntag war da dieser junge Mensch, der am Bahnsteig seine Mutter anrief. Er sei eine Station zu spät ausgestiegen und habe jetzt ein echtes Problem. Mama löste es, indem sie ihm sagte, dass der Zug in Gegenrichtung vier Minuten später fahren würde. Vom Gleis gegenüber. Genau das stand auch an der Anzeige in zehn Metern Entfernung. Es war auch auf dem papiernen Aushang in drei Metern Entfernung zu lesen. Und das Handy des Kindes war funktions- und internetfähig. Weil ich so schlecht schätzen kann, habe ich ganz freundlich nach dessen Alter gefragt: Er war 17 Jahre alt.
Je mehr ich darüber nachdenke: Ich bin für ein soziales Pflichtjahr für alle jungen Menschen. Ich fände das individuell wie gesamtgesellschaftlich gut. Weil Bildungsmisere und Social-Media-Stumpfsinn dafür sorgen, dass manch 18-Jähriger erst die KI fragt, wie man sich die Schuhe bindet und dann die Eltern, wie man eine Überweisung tätigt. Und weil Bildungs- und Sozialbereich in einem Maße kaputtgespart wurden, dass es nur noch darum geht, ein Mindestmaß an Menschlichkeit aufrecht zu erhalten. Schließlich würde schon jetzt von der Seniorenbetreuung bis zur Geflüchtetenhilfe ohne Ehrenamtliche das System zusammenbrechen.
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.
Als Angela Merkel »Wir schaffen das« sagte, meinte sie: »Ihr schafft das schon.« Die Naiveren haben das immer noch nicht begriffen. Anders sind weder die guten Verkäufe ihrer Biografie zu erklären noch die Tatsache, dass die Nach-mir-die-Sintflut-Kanzlerin immer noch so gerne als Kronzeugin gegen den unsäglichen Friedrich Merz herangezogen wird. Unter Merkel wurde auch der Bundesfreiwilligendienst eingeführt. Wer den absolviert, bekommt 400 Euro im Monat, 2,50 Euro pro Stunde. Und wenn der von der EU finanzierte europäische Freiwilligendienst doppelt so »gut« honoriert wird wie der nationale, ist selbst das Dumping des Dumpings kein Zufall.
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Ich habe schon lange den Verdacht, dass die grundsätzliche Verachtung des Sozialstaates viel weiter ins konservative Lager diffundiert ist als noch vor 20 Jahren. Derzeit kommen alle aus der Deckung, die auch Gewerkschaften oder den Mindestlohn schon immer für verzichtbar hielten. In den gegenwärtigen Spardebatten, die auf kommunaler Ebene gerade erst begonnen haben, geben mehr und mehr Konservative zu erkennen, was sie insgeheim wohl schon immer gedacht haben: dass Soziales und Kultur nice-to-have sind, letztlich aber Spielwiesen für alle die, die zu doof waren, irgendetwas zu studieren, mit dem man richtig Geld verdienen kann.
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Also: her mit dem sozialen Pflichtjahr. Aber nicht so wie bisher bei den »Buftis«, deren Idealismus mit Hohnsummen entlohnt wird. Sondern mit einem anständigen Gehalt, das dem Mindestlohn zumindest nahekommen muss. Nicht finanzierbar? In Frankreich hat der Ökonom Gabriel Zucman vorgerechnet, wie man den Staatshaushalt sanieren kann: indem man alle Vermögen ab 100 Millionen Euro zu zwei Prozent besteuert. Klar werden die einst Superreichen danach hart am Existenzminimum dahinsiechen. Aber dafür haben sie einen Bundesfreiwilligen, der mit ihnen spazieren geht.
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