Hysterie und Betäubung

»Sex« von René Pollesch in der Berliner Volksbühne

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.
Es gibt nur einen, der gegenwärtig auf deutschen Bühnen zeitgenössisches Theater macht und sich nicht hinter abgestandenen Konflikten, formalistischer Spielerei oder einer blasierten Pop-Attitüde versteckt. Der Mann heißt René Pollesch und hat gerade im Prater der Berliner Volksbühne eine neue Folge seiner Aufklärungsserie über den Zustand der Welt präsentiert. Nach der Kommerzialisierung des Zuhause (»Stadt als Beute«) und der Konvergenz von Wohnen und Arbeiten (»Menschen in Scheiß-Hotels«) wendet sich der Regisseur und Autor mit »Sex« (nach Mae West) nun der ersten und privatesten aller Industrien zu. Wie bei Pollesch gewohnt sieht man keineswegs die Praktiken naturalistisch nachgespielt. Kein Bordell à la Schlingensief versucht die billige Provokation, keine ausgestellte Realität will im Kunst-Kontext schocken. Es geht ganz unspektakulär zu. Die Protagonistinnen (diesmal Sophie Rois, Caroline Peters und Inga Busch) haben sich eines der Zimmer der von Bert Neumann in den Prater gestellten Wohnbühne als Pausenraum angeeignet. Sie sitzen auf Sofas, gehen manchmal (von einer Kamera verfolgt) auf Toilette und lassen ihre Bewusstseinsströme muntere Turbulenzen bilden. Sie sind in lange Seidenkleider gehüllt. Hätten sie mehr Sorgfalt auf ihre Frisuren verwendet, hielte man sie für Geishas auf Abruf. Aus ihren Mündern perlen Sätze, die einem Reader aus einem Proseminar Gender Studies entnommen sein könnten. Frausein sei durch die heterosexuelle Matrix produziert. Diese Matrix und als ihre konsequente Zuspitzung die Porno-Industrie bestimmten, was Sexualität sei. Deshalb seien auch die größten Trottel Sexexperten, weil sie durch Gesellschaft und Porno-Industrie konditioniert seien. Wirkliche Frauen hingegen begehrten etwas anderes. Sie seien jedoch gezwungen, diesem Begehren im Rahmen der patriarchalen heterosexuellen Gesellschaft nachzugehen und würden demzufolge in die Rollen von Hausfrau und Hure gedrängt. Ihr Drang nach Selbstverwirklichung würde also zu kommerziellen Zwecken ausgenutzt. Sie selbst fütterten demnach immer wieder die Maschine, deren Wirkung sie sich entziehen wollten. Gewöhnlich bietet Pollesch seinen Figuren als Ausweg aus dieser Paradoxie die Hysterie an. Sie hat den Vorteil, gewöhnliches Leiden zu fokussieren und dadurch besonders zu machen. Gleichzeitig bricht sich im irrationalen Kreischen fundamentaler Protest eine gewaltige und gewalttätige Bahn. Analyse, Ohnmacht und Widerstand werden so miteinander verschränkt. Auch in »Sex« kreischen Rois, Peters und Busch desöfteren. Gar gefährlich reißen sie ihre Münder auf. Diesmal haben sie aber nicht Abteilung Attacke gebucht. Ihr Fluchtmittel heißt »Chloroform«. Immer wieder beträufeln sie Taschentücher und versuchen sich in den Schlaf zu treiben. Ihre Sprechgeschwindigkeit ist - verglichen mit dem sonst von Pollesch vorgelegten Tempo - verlangsamt. Kein Wunder, dass die Ausbrüche aus der Sitzkonstellation in Schlafwandeln und sachtes Besteigen von Kronleuchtern münden. Geradezu defätistisch wirkt daher die Vorstellung. Vielleicht ist Pollesch noch vom 11. September paralysiert, den er eher uninspiriert in seinen Text einarbeitet. Vielleicht lag es auch an der Kehlkopfentzündung von Sophie Rois, wegen der die Premiere verschoben werden musste. Andererseits war der sinnierende, oft zombiehafte Sprechduktus der Diva durchaus ein Gewinn. Vielleicht kann Pollesch sich aber auch nicht eine Rebellion der Frauen vorstellen? Wer weiß. Jedenfalls war nichts von jener Umkehrung der heterosexuellen Machtverhältnisse zu spüren, mit der die draufgängerische Mae West zu Beginn des Tonfilms ihre Zeitgenossen schockierte. Aber immerhin darf man der Prater-Crew für die Erinnerung daran danken, dass die Reflektion über Mann-Frau-Verhältnisse vor ein, zwei Jahrzehnten schon einmal ein Niveau erreicht hatte, das angesichts der gegenwärtigen Renaissance des Hahnenkampfes in Politik, Medien und Wirtschaft schon fast fantastisch erscheint. Weiter am 9. Februar

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