... sprich das Wort nicht aus
Eine Anthologie erzählt von »Gott im Gedicht«, also: vom Menschen
Jörg Jordan
venezianisches abendmahl
der galiläer war in die
stadt gekommen
in der trattoria
nahe san marco
wurde das brot gebrochen
und wein geschenkt
und nach dem essen
brachte der wirt einen grappa
und erzählte von emmaus
und nur in den vielen kirchen
der stadt wusste man nichts
Wer meint, sein eigenes Leben wahrhaft deuten zu können, ist in trügerischem Glück gefangen. Wer im Brustton einer Überzeugung klar zu wissen meint, was die Welt im »Innersten zusammenhält« (Goethe), der hält Anmaßung für Weisheit. Rainer Maria Rilke ist der treffliche Kronzeuge unserer Ungewissheit; er stellte fest, »daß wir nicht sehr verläßlich zu Hause sind/ in der gedeuteten Welt«.
Das ist der Satz, der zu dieser Anthologie hinführt. Helmut Zwanger versammelt etwa 200 Lyriker von 1945 bis heute, sie erzählen von »Gott im Gedicht«. Sie erzählen also von dem, was sich uns öffnet, wenn wir die Gebäude, Kapseln, Nester, Schlupflöcher, Mauern unserer Gewissheiten für die Länge eines Gedichts verlassen. Gedicht und Geheimnis und Gott – das ist schiere Drillingskultur; Poesie arbeitet an der Offenlegung eines besonderen Gesetzes: Die Masse des Unerreichbaren bleibt immer gleich; sie fließt von einem Kolben der Sanduhr um in den anderen.
Gott ist nicht erreichbar durch Techniken einer logikverblendeten Aussagekraft, und so sind die Verse dieses Buches schöne Abschweifung, schillerndes Verschlüsseln, dunkles Überwältigtwerden oder helles Leuchten und Aufblitzen, das einem die Augen schließt.
»Die Welt/ macht mir Angst/ Sie ist schwächer/ als ein Gedicht«. Erich Fried feiert so das Gegengewicht Poesie, das dem drängend Pressenden der Realität die federleichte Schwer-Kraft der Kunst gegenüberstellt. Das Wort als Welt wider die bestehende Welt, und das Wort vom Schöpfer als Bindeglied zwischen den Reden der Vernunft und dem erschrockenen Schweigen, wenn's uns ans Leben geht. Eva Strittmatter bringt es im Gedicht »Nachts« auf den Punkt. »Ihr habt Angst wie ich/ Vor dem Krebs und vorm Krieg./ Das behält man für sich/ Und glaubt an den Sieg/ Der Vernunft und der Wissenschaft./ Gott geb uns allnächtlich zum Glauben/ die Kraft.«
Gott im Gedicht ist das, was in uns gegen das Erschrecken vor der Endlichkeit anlebt. Endlichkeit löst Verzweiflung aus. Wir müssen daher Angst vor unserer Fantasie haben, die uns dies Unabwendbare einbrennt. Angst ist es, die einen Ausdruck sucht, um sie in Erträglichkeit umzuwandeln. Vielleicht entstand so Gott; die Literatur entstand auf jeden Fall so. Musik auch, um das Göttlichste zu nennen. Oder Natur. »Herr, sag ich, es/ regnet, was/ soll man tun// Und seine antwort wächst/ grün durch alle fenster« (Reiner Kunze).
Das Buch geht den Bogen ab von den Schründen des Menschseins, von Krieg zu Krieg, von Frieden wieder zu Krieg, und die Erfahrungen mit ihrer nur schleppenden Bereitschaft, sich unumkehrbar ins Gute zu wenden, machen aus großen Hoffnungen schnell kleine Illusionen, durchstochen auch von forscher Ironie. Bei Hans-Jürgen Heise ist die »Klassenlose Gesellschaft« der Traum vom »Eigenheim/ am Rande des Universums/ dort/ wo es keine Einbrüche/ an der Börse gibt«, Gott sagt »Friede/ den Palästen den Hütten/ auf Erden endlich/ ist Jüngster Tag«. Adolf Endler wird elegisch: »Das alles gab es einmal:/ Das Süßholz; die Riesenbockwurst; /Die Waldmeisterlimonade; verbilligte Knickeier;/ Gott!«
Die Reise führt durch die Gegenwart (Kirsten, Domin), das Erinnern (Rennert, Kolbe), die Unwetter unserer kalten Kultur (Aichinger, Bachmann), sie sucht nach Erlösung und durchquert Einsamkeiten (Eich, Huchel) – dabei entsteht ein Bild vom kleinen, kühnen Menschen, der den Morgen feiert: »Himmel, mit dem Wind fuhrst du nieder. Wurzeln, durch/ meine Sohlen hindurch klettert euer Blut. Und ein Fenster/ erwacht in der Brust« (Gerd Henninger). Am Ende ist es Johannes Bobrowski, der weiß, wo Gott wohnt. Das Wissen kommt vom Umgang mit dem »Wort Mensch«. Denn, so heißt es in seinem berühmten Gedicht: »Wo Liebe nicht ist,/ sprich das Wort nicht aus.«
Helmut Zwanger (Hg.): Gott im Gedicht. Anthologie. Klöpfer & Meyer Tübingen. Geb., 376 S., 22,50 EUR
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