Ausnahmezustand in Gaza und Sderot

Neuerlicher Gewaltausbruch wird auf beiden Seiten von politischem Kalkül begleitet

  • Oliver Eberhardt, Jerusalem
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Gewalt in und um Gaza dauerte auch am Wochenende an: Israels Militär flog erneut Angriffe auf den Landstrich, während die israelischen Städte in der Nachbarschaft von Kämpfern der Hamas mit Raketen beschossen wurden.

Normalerweise sollten sie in der Synagoge sein oder in der Moschee oder beim Abendessen. Aber normal war am vergangenen Freitagabend nichts, weder im israelischen Sderot, wo den ganzen Tag über Raketen eingeschlagen waren, noch in Gaza-Stadt, wo die israelische Luftwaffe einen Angriff nach dem anderen flog und die Abschaltung der Stromversorgung droht, weil der Brennstoff ausgeht. So herrscht in Gaza wie in Sderot Ausnahmezustand. Und der ist, da sind sich die meisten Beobachter einig, Vorbote für Schlimmeres, nämlich eine israelische Bodenoffensive im Gaza-Streifen und eine Serie von Anschlägen in Israel.

Die Straßen Gazas sind am Sonnabend, für Palästinenser eigentlich der Einkaufstag, menschenleer. Die Gefahr, dass man zur falschen Zeit am falschen Ort ist und ins Zentrum eines israelischen Angriffs oder eines der wieder zunehmenden Gefechte zwischen Kämpfern der Hamas und Anhängern der Fatah gerät, sei zu groß, sagen die wenigen, die draußen anzutreffen sind.

Ein ähnliches Bild bietet sich in Sderot: Man bleibt zu Hause, in notdürftig eingerichteten Luftschutzbunkern. Die Regierung weigert sich beharrlich, öffentliche Bunker zu bauen – warum, das können nicht einmal Regierungssprecher so genau sagen. Man werde die Kassam-Raketen mit allen Mitteln stoppen, sagen sie immer wieder, und verweisen auf Analysen des Verteidigungsministeriums, in denen steht, dass Hamas und Islamischer Dschihad immer panischer würden, weil in den vergangenen Wochen eine ganze Reihe ihrer Führungsmitglieder getötet worden seien.

Aber Panik im Gaza-Streifen sei das, was Israel im Moment am allerwenigsten gebrauchen könne, findet Haim Oron, Abgeordneter des linksliberalen Meretz / Jachad-Blocks und ein vehementer Kritiker der israelischen Strategie. »Eine panische Hamas ist eine radikale Hamas, in der Hardliner die Oberhand gewinnen und uns mit allem angreifen, was sie haben. Man braucht keine geordnete Führungsschicht, um uns Schmerzen zuzufügen. Kassam-Raketen sind leicht zu bauen und leicht zu bedienen.«

Denn der militärische Flügel der Hamas, die den Gaza-Streifen beherrscht, setzt sich überwiegend aus jungen, radikalisierten Männern zusammen. Die sind in den von Arbeitslosigkeit und sozialem Elend geplagten Flüchtlingslagern im Gaza-Streifen groß geworden und daran gewöhnt, in einem Zellen-System zu arbeiten: Kleine Gruppen operieren relativ unabhängig voneinander, um es dem israelischen Sicherheitapparat zu erschweren, die Kämpfer der Organisation anzugreifen.

Doch die israelische Öffentlichkeit sieht das im Moment anders: Ende Januar wird der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Libanon-Krieg vor eineinhalb Jahren veröffentlicht werden, und der wird – das ist sicher – für Premierminister Ehud Olmert verheerend ausfallen. Der Regierungschef sieht sich deshalb dem Zwang ausgesetzt, endlich in und um Gaza herum »aufzuräumen«. Sein Verteidigungsminister, der Sozialdemokrat Ehud Barak, liefert ihm Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu zeigen, was das reformierte Militär mittlerweile kann: zum Beispiel »Luftschläge« mit tödlicher Präzision ausführen. Im Dezember hatte ein erster, isolierter Angriff den Premier, wenn auch nur kurzzeitig, aus seinem chronischen Umfragetief katapultiert. Vermutlich hoffe er darauf, dass es auch diesmal wieder so sein wird, damit er gerüstet ist, wenn seine Gegner nach der Veröffentlichung des Libanon-Berichts zum Angriff auf sein Amt blasen, spekuliert man in israelischen Medien.

Der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland kommen die Einsätze des israelischen Militärs derweil sogar recht gelegen: Auch wenn Vertreter der Notstandsregierung die Angriffe verurteilen, hoffen sie nach Aussage von Mitarbeitern der Regierung im Stillen darauf, dass die israelischen Aktionen der Fatah die Möglichkeit eröffnen, die Macht im Gaza-Streifen zurück zu erobern. Nicht nur, dass eine starke Hamas eine Bedrohung für die Herrschaft der Fatah im Westjordanland ist, ihre Kontrolle über Gaza stellt auch die Verhandlungen mit Israel in Frage, in denen immer wieder betont wird, dass ein Abkommen nur unter Einschluss von Gaza möglich sein wird.

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