Zeugnis an der Säule der »Gefangenen«

Ein Norweger zu Besuch an dem Ort, wo sein Vater SS-Arbeitssklave für die Gestapozentrale war

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Norweger Kåre Wahl, der am 8. Mai an der Lichterfelder »Säule der Gefangenen« im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf Zeugnis für seinen Vater Aksel Wahl ablegte, ist wieder in seiner Heimatstadt Hammerfest gelandet. An diese Berliner Tage, seine ersten an der Spree, wird er noch lange denken.
Kåre Wahl, sein Leben lang Mathematik- und Physiklehrer, an der Stätte der Leiden seines Vaters Aksel
Kåre Wahl, sein Leben lang Mathematik- und Physiklehrer, an der Stätte der Leiden seines Vaters Aksel

Kåre Wahl hätte sich eine solche Reise von Hammerfest nach Berlin sein Leben lang nicht träumen lassen. Aber im vergangenen Jahr bot sich plötzlich eine außergewöhnliche Gelegenheit an. Als die »Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde« die niederländischen Arbeitssklaven des Waffen-SS-Camps ehrte, offenbarte ein Blick in die lange Liste der Geschundenen aus 19 Ländern bei den Norwegern eine Lücke. Vor vielen Jahren hatte mir Aksel Wahl in Hammerfest von seiner Gefangenschaft in Lichterfelde erzählt, aber sein Name fehlte in der Liste. Schließlich konnte er – gemeinsam mit dem Archiv der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen – als »Lichterfelder« namentlich identifiziert werden.

Eine Einladung folgte, und nun, an diesem 8. Mai, fährt Kåre Wahl mit seiner Frau Dora zur »Säule der Gefangenen«, die an das einstige KZ-Außenlager erinnert. Sein Vater hatte nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Norwegen den Widerstand in der nördlichsten Stadt der Welt organisiert. Die Gestapo versuchte, durch einen »Seemann«, der sich als Kommunist ausgab, den Widerstand aufzubrechen. Es gelang nicht. Dennoch ließ der lokale Gestapochef Aksel Wahl und vier seiner Mitstreiter ohne Grund verhaften. Wahl wurde vier Tage lang verhört und gefoltert, bis er bewusstlos zusammenbrach.

Über das norwegische KZ Grini ging seine Höllenfahrt in das KZ Sachsenhausen und von hier in dessen Außenstelle Lichterfelde. Aber das war noch nicht das Ende für den »Telefonarbeiter«. Jeden Tag wurde er mit einigen anderen Arbeitssklaven in das Gestapohauptquartier in der Prinz-Albrecht-Straße gebracht, um unter ständigen Schikanen die SS-Schaltzentrale in Gang zu halten.

Der Vater, der im April 1945 von der Hilfsaktion »Weiße Busse« des dänischen und schwedischen Roten Kreuzes gerettet wurde, hat Kåre Wahl von seiner Hölle einiges erzählt – Episoden, aus denen der Sohn eine sehr lebendige Gedenkrede an diesem 8. Mai flicht. Eine Rede, die die versammelten Nazi-Opfer und deren Angehörige aus Polen, Israel, der Ukraine, den Niederlande und Tschechien und die Schülerinnen und Schüler aus Zehlendorf tief bewegt.

Eine der Episoden schildert er so: »Mein Vater hat auch von dem Sonnenscheinkind Ali erzählt. Er war Araber, und allein das war genug für die Deutschen, ihn zu drangsalieren. Sie legten eine Schlinge um seinen Hals und fragten ihn: ›Wer ist der Größte, Hitler oder Allah?‹ Ali antwortete: ›Allah ist groß‹. Dann haben sie ihn zum Spaß aufgehängt und wiederholten die Frage, nachdem sie ihn halb erdrosselt heruntergenommen hatten. ›Allah ist groß, Hitler ist so klein‹, antwortete er. Am nächsten Tag, so der Vater, fanden wir ihn tot – dann war das Leben nicht mehr dasselbe für uns.« Der Vater erzählte auch, »dass eines Abends 80 jüdische Jungen vor dem Tor des Lagers standen. Am folgenden Morgen lagen 80 Kleiderbündel da.«

Das Schicksal der Juden liegt Norwegens Botschafter Sven Erik Svedman, der auf dieser Gedenkfeier als Diplomat des jeweils geehrten Landes spricht, ebenfalls am Herzen. Über 700 norwegische Juden waren nach Auschwitz deportiert und fast alle ermordet worden. Svedmans Vater hatte Juden geholfen, sich nach Schweden zu retten. Doch er war von einem Landsmann denunziert und von den Deutschen gefangen gehalten worden. In Norwegen, folgert der Botschafter, gab es nicht nur Opfer, sondern auch Täter – in Deutschland ebenso nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Und trotz dieser schrecklichen Jahre gebe es heute ein sehr gutes Verhältnis zwischen beiden Ländern.

Kåre Wahls Vater ging nach seiner Rückkehr im Mai 1945 als einer der ersten an den Wiederaufbau der völlig zerstörten Heimatstadt Hammerfest – als Organisator und KP-Stadtverordneter. Einige Jahre später wurde auch ein Museum des Wiederaufbaus errichtet. »Dort werden heute die Lagerdokumente meines Vaters bewahrt«, berichtet Kåre Wahl, »darunter die Briefe meiner Mutter nach Lichterfelde, und auch der Zettel, auf den ich als Fünfjähriger mit ungelenken Buchstaben schrieb: ›Lieber Papa, nun musst du bald heimkommen, mit vielen schönen Sachen. Du bist so lange weg. Was machst du? Grüße von Kåre‹.«

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