Arbeitsgemeinschaft für Abqualifizierung

Wie sich schlechte Lebenschancen vererben – nicht nur im Nordosten

  • Velten Schäfer, Schwerin
  • Lesedauer: 6 Min.
Dass gute wie schlechte Chancen in der Bundesrepublik in hohem Maße eine Frage der Herkunft sind, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Beispiele aus dem Nordosten zeigen, wie die bestehenden Gesetze und ihre restriktive Auslegung Kinder aus »Bedarfsgemeinschaften« vor besonders hohe Hürden stellen und in ihre Lebensplanung eingreifen.

Thorsten K. (Name geändert) gehört zu den Jugendlichen, denen ein schlechtes Leben droht. Er sitzt frustriert zuhause in einer mecklenburgischen Kleinstadt, bezieht Hartz IV und langweilt sich, wenn er nicht gerade an einer »Maßnahme« teilnimmt. Mit seinen inzwischen 20 Jahren und nichts in der Tasche als einem Hauptschulabschluss sieht seine Zukunft düster aus. Man muss wohl froh sein, wenn er nicht auf dumme Gedanken kommt oder in schlechte Gesellschaft gerät. Träume von seinem Leben mag er haben; Perspektiven aber, erreichbare Ziele, gibt es kaum

Das war aber nicht immer so. Nach der Schule hatte Thorsten durchaus Pläne. Er interessierte sich für die Menschen und wollte Erzieher werden. Möglich wäre das gewesen, auch mit einem Hauptschulabschluss: Nach einer zweijährigen Ausbildung zum »Sozialassistenten« hätte er keine schlechten Aussichten auf eine dreijährige Erzieherausbildung gehabt. Männliche Erzieher sind selten und deutschlandweit durchaus gefragt.

Thorstens Unglück begann im Elternhaus. Der Haushalt gehört zu den zehntausenden im Nordosten, die aufstockende Sozialleistungen beziehen. Thorsten war somit ein »Fall« für die ARGE. Der sagte die Aussicht auf eine fünfjährige Ausbildungsphase aus Kostengründen überhaupt nicht zu, so dass der junge Mann gegen seinen Willen in eine überbetriebliche Ausbildung zum Koch vermittelt wurde. Ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte, sonst wäre die Familie finanziell empfindlich bestraft worden. Im Resultat zeigte sich Thorsten in der Koch-Schule trotzig, unmotiviert – und flog. Seither sitzt er auf der Straße – und verursacht nebenbei weiter Kosten für die betreffende ARGE. Statt eines motivierten Erziehers hat das Land einen Rumhänger mehr bekommen.

Qualifikation, Lernen und Bildung, so klingen seit Jahren die Gebetsmühlen der Politik, sind der Ausweg aus der Armut. Erst Anfang der Woche war dieses Mantra wieder in der ganzen Republik zu vernehmen, nachdem die Bundesregierung ihren Armutsbericht veröffentlicht hatte. Niemand könnte dem widersprechen – außer einer Wirklichkeit, in der gerade Jugendlichen aus armen Verhältnissen hohe Hürden in den Weg gestellt werden; in der letztlich kurzfristige Sparzwänge auf Behördenseite über das Leben junger Menschen mitentscheiden und Kinder mit dem Entzug des Grundrechts auf eine freie Berufswahl dafür bestraft werden, dass ihre Eltern keine existenzsichernden Löhne erhalten. In der Planwirtschaft wurden Kindern Berufe zugeteilt, die als nötig erachtet wurden; in der Welt von Hartz IV und SGB II müssen sie das machen, was zufällig gerade da ist.

Behördlicher Stipendienklau

Schicksale wie das von Thorsten K. sind beileibe keine Einzelfälle, weiß Karin Larisch. Auch auf dem Schreibtisch der engagierten Sozialberaterin im Güstrower »Haus der Integration« häufen sich absonderliche Fälle. Derzeit würden zum Beispiel Friseurinnen zu Kosmetikerinnen fortgebildet – gleichzeitig aber auch umgekehrt. Da gibt es qualifizierte Handwerker mit langer Berufserfahrung, die, gerade in Hartz IV gerutscht, in dreimonatige Trainingsmaßnahmen in ihrem eigenen Beruf gesteckt werden, weil der Bund für die Dauer der Maßnahme die Unterkunftskosten übernimmt. Sparvorschriften wollen umgesetzt werden. »Ich kann das Verhalten jedes Einzelnen im System nachvollziehen und unterstelle keinen bösen Willen«, sagt die Beraterin. »Aber das Ergebnis ist oft katastrophal.«

Es gibt jedoch auch Fälle, in denen das Sparen die Grenzen der Gesetze überschreitet. Im Nordosten ist davon regelmäßig ausgerechnet die Gruppe betroffen, bei der der Bildungsbedarf am größten ist: Kinder aus Einwandererfamilien. Für begabte Zuwandererkinder aus bedürftigen Verhältnissen gibt es im Nordosten das Stipendienprogramm »START«. Hertie-Stiftung, Freudenberg-Stiftung, Landes-Bildungsministerium und die Integrationsstelle RAA haben sich zusammengeschlossen, um unbürokratische Hilfestellung zu geben. Über die Schulen können sich die Kinder um Zuwendungen bewerben, um Kurse besuchen zu können oder vielleicht etwas für den Computer zu kaufen. Aber immer wieder, so Larisch, rechnen ARGEn in Mecklenburg-Vorpommern den Eltern der geförderten Kinder ihre Stipendien als Einkommen an – und ziehen den jeweiligen Betrag von der Unterstützung der Familie gleich wieder ab. Dieser behördliche Stipendienklau ist zwar eindeutig widerrechtlich, wird aber immer wieder versucht. Vielleicht wissen machen »Fallmanager«, die oft aus anderen Ämtern in die ARGEn versetzt wurden, einfach nicht Bescheid. Vielleicht denken sie aber auch, man könne es ja mal versuchen – immer die Kosten im Blick.

Segregation von Anfang an

Die Unterscheidung zwischen »normalen« und armen Kindern beginnt im Nordosten inzwischen bereits im Windelalter. Bei einer Landtagsanhörung zum Kinderförderungsgesetz (KiFöG) beklagten erst am Mittwoch Sozialwerke und Kita-Träger in einer Anhörung des Sozialausschusses erneut eine Praxis, von der das Schweriner Sozialministerium bisher keine Kenntnis haben wollte: Kommunen seien nahezu flächendeckend dazu übergegangen, Kinder von Langzeitarbeitslosen von Ganzttags- auf Halbtagsbetreuung herunterzustufen, um Kosten zu sparen – für die Betreuung selbst und für das Mittagessen, wie in einer gemeinsamen Stellungnahme der landeskirchlichen Diakonien zur geplanten Novelle des Kinderförderungsgesetzes vermutet wird. Ähnlich wie die LINKE-Opposition fordern die Kirchen, vor diesem Hintergrund, ab dem 15. Lebensmonat einen ganztägigen Kita-Anspruch festzuschreiben, um mit der Segregation nicht schon bei den Kleinsten anzufangen. Das unterschiedslose Zusammensein in den Kitas, erklärt LINKE-Sozialexpertin Marianne Linke, ist wichtig für die Chancengleichheit. Auch bei der vorschulischen Bildung, die seit dem rot-roten Kinderförderungsgesetz als vorbildlich gelten kann, will die Koalition auf Drängen der CDU erhebliche finanzielle Abstriche machen; die Union hat ihren Wählern ein kostenfreies Vorschuljahr versprochen – das allerdings nur den Kindern aus besser gestellten Familien zugute käme, denn die Kita-Kosten für die armen Kinder werden von der öffentlichen Hand getragen. Auch das lehnen LINKE wie Kirchen ab. Die ehemalige Sozialministerin Linke befürchtet sogar, auf diesem Weg könnten sich Bezahlangebote in die Vorschulbildung einschleichen und die Ungleichheit der Lebenschancen noch verstärken.

Die »Segregation«, sagt Christian Köpcke, sei in den Grundzügen der bundesweiten Gesetzgebung zu »Hartz IV« ohnehin schon fest genug eingeschrieben. Der Nordost-Landesvorsitzende des Arbeitslosenverbands Deutschland fordert nicht nur, »endlich einen kindgerechten Regelsatz zu ermitteln«. Für ihn besteht der größte Skandal darin, dass das Kindergeld bei »Bedarfsgemeinschaften« auf die Grundsicherung angerechnet wird, so dass für die betroffenen Kinder nur gut 50 Euro zusätzlich bleiben. »Wegen dieser Anrechnung sind die betroffenen Kinder vom Leben ihrer Freunde weitgehend ausgeschlossen«, so Köpcke. Auch dies trage zu Chancenungleichheit erheblich bei.

Kein Geld für den Lehr-Weg

Für die in Statusfragen oft sensiblen Teenager wird die Zwei-Klassen-Gesellschaft spätestens manifest, wenn sie ihre Schule beendet haben. 16-Jährige aus »normalen« Familien können nach dem Schulabschluss im Juli ein paar Wochen Ferien machen; für Kinder aus »Bedarfsgemeinschaften« und »Aufstocker«-Familien beginnt mit dem ersten Tag nach der Schule die Welt der Pflicht – und oft genug gleich die erste »Maßnahme«. Oft selbst dann, wenn sie ab dem September eine Lehrstelle vorzuweisen haben. Die Wege von Schulkameraden trennen sich dann auch räumlich: die einen gehen zur Agentur, die anderen zur ARGE. Zu den »Assis«.

Auch in der Ausbildung enden die Probleme der Bedarfsgemeinschaftskinder nicht. Bei Barbara Borchardt (LINKE), die dem Schweriner Petitionsausschuss vorsitzt, häufen sich Eingaben, die Fahrtkosten zur Ausbildungsstätte betreffen. Wenn die Jugendlichen bei den Eltern wohnen, besteht kein Anspruch auf Berufsbildungsbeihilfe. In manchen dieser Fälle »droht der Abbruch von Ausbildungen«, warnt der Nordost-Bürgerbeauftragte in einem Schreiben an den Bildungsausschuss.

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