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Die Mitte, das unbekannte Wesen

SPD-Kongress bemühte sich um Definitionen und Verbündete

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 3 Min.
Über weite Strecken ratlos folgten die über 800 Gäste am Mittwoch dem Mühen der SPD-Prominenz und ihrer Diskussionspartner, Licht in das Dunkel der »Mitte« zu bringen. Das kirchenschiffähnliche Atrium des DaimlerChrysler-Hauptquartiers in Berlins Mitte sorgte für die nötige Andacht.
Man kann den Begriff der gesellschaftlichen Mitte nicht aus der Welt schaffen. Doch sein Nutzen bei der Erklärung dessen, was die Wählerwelt zusammenhält, ist auch nach dem Kongress der SPD »Die Mitte in Deutschland« zweifelhaft. Die Mitte zu okkupieren, hat die SPD-Führung jedoch bereits verkündet. Pflichtgetreu halfen ihr die geladenen Fachleute daher bei der Spurensuche, so gut sie konnten. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte in seiner Grundsatzrede am Morgen aufgezählt, wen er unter die »Mitte« zählt. Die vielen Millionen Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Krankenschwestern, Lehrer - also quasi alles, was stimmberechtigt ist zur Bundestagswahl und nicht zu den »extremistischen Rändern« gehört. Schröder hat bekanntlich sogar einen eigenen Anteil am Begriff der »neuen Mitte«. Gemeinsam mit dem britischen Premier Tony Blair hatte er als Kanzlerkandidat der SPD in einer umstrittenen Schrift diesen zu begründen versucht. Die hierbei angestrebte, modernisierte Sozialdemokratie hat jedoch Schwierigkeiten, sich von den alten Wahrheiten zu lösen, die vielen noch immer wahr zu sein scheinen. Nach der Häufigkeit des Beifalls zu urteilen, empfanden auch viele der über 800 Gäste die Debatte über weite Strecken als weltfremd. Sie belohnten nur klare politische Bekenntnisse wie das von Daniela Dahn, die eine flächendeckende Zerstörung von Leben durch Bomben nicht als Mittel einer Politik der Mitte akzeptieren wollte. Die Schriftstellerin machte sich zudem erneut zur Anwältin für die Belange der Ostdeutschen, die sich nach ihrer Beobachtung weitgehend als von der Mitte ausgeschlossen empfinden. Dahn zeigte sich nicht bereit, von den praktischen Konsequenzen der Begriffsdefinitionen zu abstrahieren und ärgerte sich unverhohlen über die »Schönfärberei« von Generalsekretär Franz Müntefering, weil der seit der Wende eine Aufwärtsentwicklung des Ostens ausgemacht hatte. Dahn, die dem Begriff der Mitte beim besten Willen »keine Attraktion abgewinnen« konnte, hielt sich lieber an Willy Brandt, der in verständlichen Worten eine »Bändigung des Kapitalismus« gefordert hat - was ja bisher von der SPD nicht dementiert, also noch gelten müsste, wie sie bemerkte. Mit Neugier erwarte sie daher die Programmdebatten der SPD. Anders als die Literatin versuchten sich die Publizisten Warnfried Dettling und Richard Herzinger wie auch Friedrich Hengsbach von der Theologischen Hochschule Sankt Georgen nach besten Kräften an einer Definition. Nach ausladender Debatte war klar: Im komplizierten Geflecht zwischen Oben und Unten, Individualisierung und Gemeinschaft, Grundrechten und Flexibilisierung sind es immer wieder Mehrheiten, um die es immer wieder geht. Die Mitte, das unbekannte Wesen? Nein, das ist das Wesen der Mitte! In anderer Funktion als der einer Wahlkampfkategorie ist sie »Ausdruck einer Verlegenheit«, wie Herzinger es nannte, einer »Sprachlosigkeit gegenüber Veränderungen«. Doch auch am Mittwoch war die gegenläufige Tendenz zu beobachten: die Flucht aus vermeintlich delegitimierten Begriffen. Dettling freute sich daher, dass mit der »Mitte« ein »regulativer, normativer Begriff zur Modernisierung der Parteien« zur Verfügung steht. So wichtig das Besetzen von Begriffen ist, ätzte unverdrossen Daniela Dahn, »der Wähler entscheidet nach praktischer Politik«, die Politiker müssten sich daher die »Sinnfrage« stellen. Das versuchte in einer weiteren Runde die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn gemeinsam mit Vertretern der Wirtschaft. Andreas Schleicher (UNESCO) erneuerte dabei den Schrecken nach der PISA-Studie: In der Bundesrepublik schlössen nur 16 Prozent eines Altersjahrganges ein Studium ab, in Japan oder Großbritannien seien dies über 30 Prozent.
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