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  • Heute beginnen in Peking die XIII. Paralympischen Spiele

China lernt barrierefreies Denken

Von Olympia zu Paralympia: 70 Millionen Euro gab Peking aus, um die Stadt fit zu machen

  • Anna Guhl, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.
Gut zwei Wochen nach dem Ende der Olympischen Sommerspiele werden heute im Pekinger »Vogelnest« die Paralympischen Sommerspiele eröffnet. Gastgeber China geht in allen Sportarten mit 332 Athleten an den Start. Als China vor sieben den Zuschlag für Olympia erhielt, war damit auch die Ausrichtung der Paralympischen Spiele verbunden. Vielen Beobachtern vor Ort schien das als beinahe noch größere Herausforderung als die Vorbereitung von Olympia, weil sich bis dahin weder Peking noch die chinesische Gesellschaft behindertenfreundlich gezeigt hatten.

Kaum dass Behinderte auf Pekings Straßen wahrgenommen wurden, sie wären auch nur auf Hindernisse und Grenzen gestoßen. Überall steile Treppen, hohe Bordsteinkanten und massenhaft unüberwindbare Schwellen, die ganz typisch für Chinas alte Architektur sind, weil sie seit jeher böse Geister vom Eintritt abhielten. Weder im öffentlichen Nahverkehr noch an den Eingängen zu Geschäften, Restaurants, Hotels, Toiletten, Touristenattraktionen war bisher an behindertengerechte Zugänge gedacht worden. Da Behinderte im Straßenbild kaum auftauchten, brauchte »man« ihnen nicht gerecht zu werden. So die Logik vieler Chinesen bis heute.

Die Anstrengungen der Pekinger Stadtverwaltung in Sachen Paralympia können sich sehen lassen: Fast 70 Millionen Euro hat Peking investiert, um Rampen an öffentlichen Gebäuden anzubringen, U-Bahnhöfe mit Liften und Schrägen zu versehen, Krankenhäuser und Hotels umzubauen und den ungehinderten Zugang zu 60 Pekinger Sehenswürdigkeiten zu ermöglichen. Rund 2800 Busse im Öffentlichen Nahverkehr wurden in den letzten Jahren ausgetauscht, 400 von ihnen stehen von nun allein für die Paralympier zur Verfügung. Innerhalb weniger Tagen wurde das Olympische Dorf für die Unterbringung der behinderten Sportler und ihrer Betreuer umgestaltet.

Die 20 Wettkampfstätten seien erfolgreich getestet worden, sagt die Paralympics-Verantwortliche Tang Xiaoquan vom Organisationskomitee BOCOG. »Damit die behinderten Sportler auch die schönen Seiten Pekings genießen können, sind extra 13 Reiserouten eingerichtet worden. Auch die Große Mauer kann nun bestiegen werden.« Auch andere chinesische Städte sollen behindertengerecht ausgebaut werden. Bis 2010 will die chinesische Regierung insgesamt 100 Städte im Land »barrierenfrei« umgestaltet haben.

44 000 freiwillige Helfer machen bei den Paralympics mit. Seit drei Jahren sind sie auf ihren Job vorbereitet worden. Denn Chinesen tun sich schwer im ungezwungenen Umgang mit behinderten Menschen. Daher wollte die Parteiführung in den letzten Tagen mit ihren medienwirksamen Auftritten im neuen schmucken Pekinger Trainingszentrum für behinderte Sportler dazu beitragen, für mehr Achtung vor deren Leistungen zu werben. Auch der in den chinesischen Medien umfangreich beschriebene zehntägige Fackellauf kurz vor Beginn der Spiele sollte helfen, auf die Probleme Behinderter aufmerksam zu machen. Immer wieder wird dieser Tage in der chinesischen Presse zu mehr Respekt vor ihnen aufgerufen.

Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die etwa 83 Millionen Behinderten in China, (immerhin sechs Prozent der Bevölkerung) weiterhin kaum in den Alltag integriert sind. Sie leben noch immer am Rand der Gesellschaft. Für sie ist der Zugang zur »normalen« Schul- und Ausbildung verschlossen. Nur selten sind sie auf dem Universitätscampus oder als Beschäftigte in öffentlichen Institutionen anzutreffen. Da haben bisher keine gesetzlichen Verordnungen über den »Schutz von Behinderten« geholfen, auch nicht die Billigung der »UN-Konvention für die Rechte von Behinderten« aus dem Jahr 2006 durch den Nationalen Volkskongress.

Trotz aller Werbung ging auch der Kartenverkauf nur schleppend voran. Wenige Stunden vor der heutigen Eröffnung wurden selbst für das »Vogelnest« noch Karten angeboten. Es bleibt abzuwarten, ob die derzeit zu beobachtende Hilfsbereitschaft der Pekinger auch nach der Abschlussfeier in zwei Wochen weiter anhält.


Zahlen und Fakten

Paralympics: Zum Begriff gibt es vier Entstehungsvarianten: Zusammensetzung von Paralysis (engl. Lähmung) und Olympics; Parallel und Olympics, Para und Olympics (para – griechische Vorsilbe: sich anschließen), Para und Olympics (para – lateinische Vorsilbe: zugehörig, neben).

Geschichte: Die 1. Sommer-Paralympics fanden 1960 in Rom statt. Am Start waren rund 400 Athleten aus 23 Ländern in 7 Sportarten. Das deutsche Team bestand aus 15 Athleten – 2 Frauen, 13 Männer. Die Winter-Paralympics erlebten ihre Premiere 1976 in Ornsköldvik (Schweden). 1988 in Seoul wurden die Paralympics erstmals in den olympischen Sportstätten ausgetragen.

Deutsches Team 2008: Es besteht aus 170 Athleten (Athen 213, Sydney 350) – 67 Frauen, 103 Männer. 73 Sportler sind erstmals dabei. Das Durchschnittsalter liegt bei 32 Jahren und ist gegenüber den Vorjahren deutlich gesunken.

Peking 2008: In Peking, Hongkong (Reiten) und Qingdao (Segeln) werden 4000 Athleten aus 144 Nationen in 20 Sportarten um 472 Goldmedaillen (Athen 520) kämpfen. 2000 Offizielle und 44 000 freiwillige Helfer sind an der Organisation beteiligt. 4000 Medienschaffende berichten, darunter viele Deutsche. 1988 in Seoul war ein einziger deutscher Journalist dabei.

Fernsehen: ARD und ZDF zeigen mehr Paralympics denn je. Aus Athen sendeten sie 10 Stunden, aus Peking werden es mehr als 100. Erstmals gibt es Livebilder von der Eröffnungsfeier und Schlusszeremonie.

Paralympics in China: Behindertensport hat mittlerweile einen recht hohen Stellenwert. Vor Olympia wurden mehr als 13 Millionen Menschen mit Behinderung gesichtet. Daraus gingen rund 27 000 Athleten hervor.

Doppelstart: Die südafrikanische Schwimmerin Natalie du Toit, die erste behinderte Athletin, die sich für einen Start bei Olympia qualifizierte, wird bei den Paralympics starten. Der 24-jährigen, vor drei Wochen 16. im 10-km-Freiwasserwettbewerb, war 2001 nach einem Verkehrsunfall ein Bein amputiert worden. In Athen 2004 war sie fünffache Paralympics-Siegerin. Die Olympia-Qualifikation verpasste dagegen ihr Landsmann Oscar Pistorius, dessen High-tech-Prothese erst nach einer Verhandlung vor dem Sportgerichtshof CAS für Wettbewerbe mit Nichtbehinderten zugelassen wurde. kw

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