Zwei der letzten »Unbeugsamen«

Schreiner und Geißler: Ex-Kontrahenten streiten gemeinsam »auf ziemlich dickem Eis« für mehr Gerechtigkeit

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 4 Min.
Vermutlich hätte Ottmar Schreiners neues Buch auch unter ganz normalen Umständen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dass aber der Auflauf bei der gestrigen Vorstellung in Berlin so groß war, lag freilich auch an den jüngsten Turbulenzen in der SPD.
Ottmar Schreiner
Ottmar Schreiner

Als einer der letzten »Unbeugsamen« in der SPD wird Schreiner vorgestellt – und dieses Etikett, wenn auch für die CDU geltend, auch gleich noch Heiner Geißler verpasst. Der gehört zu den Wenigen, die Schreiners »Gerechtigkeitslücke« schon gelesen hatten und es sogleich zur »Pflichtlektüre« für das neue sozialdemokratische Führungsduo Franz Müntefering und Frank-Walter Steinmeier erklärt. Schreiner wird später sagen, er hoffe, dass die beiden es lesen – aber sehr überzeugt klingt das nicht. Das muss der Mann, der die Agenda 2010 von Anbeginn heftig kritisiert hat und auch jüngst dem neuen Parteichef Müntefering ob dessen »Weiter so-Kurs« seine Zustimmung versagt hatte, wohl gespürt haben. Deshalb schiebt er eiligst nach, keine Brücken hinter sich abgebrochen zu haben und auf Dialog zu setzen.

Einem Mann wie Steinmeier traut Schreiner nämlich eine gewisse Lernfähigkeit zu. »Es muss uns möglich sein, Schlussfolgerungen aus der Entwicklung der letzten Jahre zu ziehen und es bricht keinem ein Zacken aus der Krone, die Fehlentwicklungen, zu denen die Agenda 2010 geführt hat, einzugestehen und sie zu korrigieren«, träumt Schreiner laut. Bei Müntefering tut er sich mit dem Zugeständnis an Lernfähigkeit eine Spur schwerer. Und erinnert an das Gezerre um die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, das ja zum Zerwürfnis zwischen dem Ex-Vizekanzler und Ex-Parteichef Kurt Beck beitrug, das am Wochenende am Schwielowsee zum sattsam bekannten Ende geführt worden ist.

Geißler, der mit der ihm eigenen Listigkeit das Wort auf Steinmeier und Müntefering und damit die Sozialdemokratie gebracht hat, erklärt alsbald Schreiners Buch – »die umfassendste kritische Darstellung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der letzten Jahre« – auch zur Pflichtlektüre in seiner CDU. Denn: »Wer es gelesen hat, kann in der Sozialpolitik nicht so weitermachen wie bisher.« Was freilich ebenso ein Wunschtraum bleiben dürfte wie Schreiners Aufruf für mehr soziale Gerechtigkeit.

Aber gerade weil die beiden, dereinst politische Kontrahenten, bisweilen das Publikum Glauben machen wollen, über ihre Einigkeit immer noch ein wenig erstaunt zu sein – sie demonstrieren sie mit Freude und vor allem inhaltlich. Schreiner macht seiner »moralischen Empörung« darüber Luft, dass in einem der reichsten Länder Alters- wie Kinderarmut wächst und die schlechteste Lohnentwicklung unter allen europäischen Ländern stattfindet – und nennt das »in höchstem Maße unanständig«. Geißler hält die Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialhilfe wie auch die Kürzung der Pendlerpauschale für falsch – und sagt, wer bejahe, dass Hartz IV-Betroffene für ihre Erstklässler Buntstifte, Federmappe und Turnschuhe aus dem Regelsatz bezahlen müssen, habe entweder »Hornhaut auf der Seele« oder sei »dumm«.

Mit der Dummheit haben sowohl Schreiner als auch Geißler ohnehin ihre Probleme. Der einstige CDU-Generalsekretär regt sich über »Sittenverfall«, »Gedankenfaulheit« und »Etikettierung« auf, weil die Buchvorstellung als »linke Veranstaltung über ein linkes Buch von einem linken Autor und vorgestellt von einem anderen Linken« apostrophiert worden sei. Schreiner beklagt die »Verwilderung von Begriffen«, die ihn auch schon mal in der SPD zum »Linksradikalen« stempelt, und kann auch wenig mit der neu herausgegebenen Losung in seiner Partei: »Blick nach vorn und Schulterschluss« anfangen. Schon deshalb, weil die Agenda eben nicht, wie mancher Genosse weismachen will, der Schnee von vorgestern ist, sondern »weit in die Zukunft hineinwirkt«.

Wenig später hat Schreiner seine Liebeserklärung an Geißler (»Wenn man von einigen Notlügen absieht, ist das schon dickes Eis, auf dem wir zusammen gehen«) dann womöglich doch bereut. Als nämlich der alte Mann der CDU völlig unbefangen über die LINKE meditiert, einen anderen Umgang der SPD mit ihr als geistesgeschichtliche Aufgabe bezeichnet, von der Einheit von Sozialisten und Kommunisten in Europa spricht und gleich noch an die USPD erinnert, wirkt der »Unbeugsame« aus der SPD leicht irritiert. Zumindest teilt er aber dann doch Geißlers erheblichen Zweifel, dass die SPD ewig den Spagat hinbekommt, ein Zusammengehen mit der LINKEN im Reichstag als Todsünde zu bezeichnen, aber im Roten Rathaus zur Tugend zu erklären.

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