Letzte Stationen auf dem Weg nach unten

Franz Jung: Entdeckung eines Verkannten

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 6 Min.
Was ist ein Torpedokäfer? Einer, »dessen biologische Eigenschaft darin besteht, dass er das Ziel anfliegt und stürzt«. Im Bild dieses imaginären Insekts hat der Schriftsteller und Anarchist Franz Jung, dieser ultralinke Sektierer, rückblickend sein Leben betrachtet - und beschrieben, nämlich in der beeindruckenden Jahrhundertbiografie »Der Weg nach unten« (1961). Letzte Worte eines zum Schluss abgrundtief Hoffnungslosen.
Dabei hatte alles so anders angefangen - im Zeichen »grüner« Hoffnung und »roten« Aufbegehrens, wie Jung seine Kindheits- und Jugendjahre im ostpreußischen Neiße bis zum Eintritt in die Literatur mit expressionistischer Prosa, Stücken und agitatorischen Essays sowie die anschließenden Jahre politischer Gärung und Radikalisierung mit solch spektakulären Aktionen wie einer Schiffsentführung nennt. Zögerlich zunächst mit dem Bändchen »Trottelbuch« (1912), dann aber mit Wucht und Nachdruck schreibt er sich in die literarische Szene der stürmischen, vätermordenden Expressionisten ein (»Opferung«, »Der Sprung aus der Welt«, »Gott verschläft die Zeit«), hinterlässt überall Spuren in den wesentlichen Medien und Organen der Zeit, verteilt auch ordentlich Hiebe und sorgt für allerhand Narben und Blessuren. Kurzfristig schafft er es, einer sich im Umschwung befindlichen Zeit und Epoche ihre Signatur zu verpassen, im Wildwuchs der Metaphorik und einem staccatohaften Ton den Rhythmus und die Geschwindigkeit des expressionistischen Jahrzehnts tatsächlich zu treffen. Jung gelingt spielend und scheinbar spielerisch die Verbindung aus Psychoanalyse, einer ultralinken Gesellschaftskritik und einem literarischen Anspruch und Zugriff. So findet er dann auch früh zu operativen Formen, die sich in Gestalt des proletarisch-revolutionären Theaters, etwa in den Stücken »Wie lange noch?« und »Die Kanaker«, oder des Essays und der Reportage, so in seinem Bericht »Reise in Russland« und in den Reportagebänden »Joe Frank illustriert die Welt«, manifestieren.
Franz Jung ist maßlos, hyperaktiv, ein ständiger Projektemacher und rastloser Anreger und Produzent. Er will alles - schreiben und zugleich eingreifen, ebenso Politik machen wie in literarischer Form ideologische Positionen beziehen und artikulieren. Seine Ästhetik und Poetik liegen im Trend der Zeit und auf der Höhe dessen, was auch die frühe sowjetische Avantgarde bewegt hat, ebenso wie später dann Brecht und seine Leute: gefordert ist ein eingreifendes Denken, die - avantgardistische - Entkunstung von Kunst und Literatur zugunsten einer Aktivierung des Lesers und Zuschauers. Aber nur kurz dauert das Zwischenspiel Jungs in der parteilich organisierten Politik, in der KAPD, die er mit aufgebaut hat; sein verquerer, niemals zur Parteiräson zu zwingender Kopf verweigert sich, und Jung schlägt sich seit den 20er Jahren und recht eigentlich bis zum Lebensende durch die verschiedensten Brotberufe und »odd jobs«, wobei er freilich häufig eine seiner maßgeblichen Kompetenzen, seine Versiertheit in wirtschaftspolitischen Komplexen, einsetzen und beruflich nutzen kann. Es folgen Vertreibung und Exil, Arbeits- und Gefangenenlager zum Ende der Kriegsjahre, schließlich die Übersiedlung in die USA, wo er sich in New York, später dann San Francisco zwischen 1948 und 1960 als Wirtschaftsstatistiker und Wirtschaftsjournalist mehr schlecht als recht durchwurschtelt. Seit 1931 hat er bereits keine literarischen Arbeiten mehr veröffentlicht.
Seine letzten Lebensjahre verbringt der alte Mann in Europa: in Wien, San Giovanni Rotondo und Salzburg, in der Provence und in Paris, meist allein und finanziell abhängig von Freunden und Bekannten. Wenig beachtet erliegt er 1963 in einem Stuttgarter Krankenhaus den Folgen eines Herzinfarkts. Und sonst? Alkohol- und Drogenexzesse, Frauengeschichten en masse, der mysteriöse Tod seiner Tochter Dagny - ein Wüten gegen Gott und die Welt, ein Kampf endlich gegen sich selbst und auch die Leser.
Jung bleibt, das zeigt die vor einigen Jahren abgeschlossene Werkausgabe des Nautilus-Verlags, dem expressionistischen Jahrzehnt und den ersten 20er Jahren verhaftet. Er bleibt bis zum Schluss der Anwalt einer geschundenen Individualität, ein Anarch, der sich Rebellion und Revolution gegen die verhasste bürgerliche Gesellschaft nur als je subjektiven Akt vorstellen kann. Er verkörpert in sich (und beschreibt dies auch auf vielfältige Weise) die Leiden desjenigen, den ein gleichaltriger Zeitgenosse, der ungarische Philosoph Georg Lukács, einmal als »problematisches Individuum« bezeichnet hat. Wo sich dieses Individuum schließlich nicht mehr aushalten kann, nachdem die traditionell gültigen Werte und Normen, das »transzendentale Obdach«, für immer geschwunden sind, sehnt es sich nach einer neuen »Gemeinschaft der Liebe« (Lukács), die Franz Jung in seinen programmatischen Essays »Technik des Glücks« (1921) und »Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht!« (1923) bereits glaubte zu antizipieren.
Nicht zu Unrecht spricht er in der Korrespondenz mit dem Flensburger Verleger Jes Petersen, die soeben in einer schönen, liebevoll ausgestatteten und von Andreas Hansen exzellent kommentierten Edition im BasisDruck Verlag erschienen ist, davon, dass seine alten Arbeiten geradezu »klassisch« für den Expressionismus seien. Allerdings: Glück ist diesem Projekt einer Neuausgabe seiner Texte ebenso wenig beschieden gewesen wie im Grunde genommen allen Versuchen Jungs, Anschluss an den literarischen Markt bzw. das literarische Feld zu finden, das im Westen schnell von der Ästhetik der Gruppe 47 (Kahlschlag-Nullpunkt-Realismus), im Osten durch Vorstellungen einer antifaschistischen, sozialistisch-realistischen Doktrin usurpiert gewesen ist. Die Literaten des expressionistischen Jahrzehnts und Aufbruchs mussten da als ungebetene Gäste draußen vor der Tür Platz nehmen, dort, wo es zugig war und sich kein Verleger gerne aufhalten mochte.
Umgekehrt haben es aber auch die Autoren nicht vermocht - und das mag die ebenfalls kürzlich erst von dem seit Jahrzehnten sich um das Werk und die Person Franz Jungs bemühenden Literaturwissenschaftler Walter Fähnders aus dem Nachlass herausgegebene Erzählung »Die Verzauberten« (entstanden ca. Ende der 50er Jahre) einmal mehr belegen -, sich in Sprache, Stil und Gestus den veränderten Schreibverhältnissen im Nachkriegsdeutschland anzupassen. In diesem kurzen Text versucht Jung, worauf Fähnders wohl zu Recht hinweist, eigene biografische Stationen seiner Entwicklung unter Einschluss einer radikalen »Selbstanalyse bis zur bohrenden Tendenz zur Selbstzersetzung« (so Jung in einem Brief) aufzuarbeiten: nämlich seine Beziehung zur Ungarin Anna von Meißner gegen Ende des Krieges. Dabei experimentiert er durchaus mit den Mitteln des Erzählverfahrens, wechselt von auktorialer Perspektive zu personalem Erzählen und mischt zahlreiche Dialog-Passagen in den Text hinein, was insgesamt die Lektüre des fragmentarischen Textes sichtlich erschwert und zugleich auch wieder die gehörige Distanz zu damals geläufigen Formen des Erzählens, orientiert am Realismus oder auch an der amerikanischen Short Story, erklärt.
Ob die Zeit - eine neue Zeit vielleicht - für Jung (und seine Generationsgenossen) heraufzieht? Jung selbst endete im rabenschwarzen Pessimismus. Seiner zweiten Frau Cläre, mit der er über die Trennung hinaus bis zu seinem Lebensende Kontakt gehalten hat, schreibt er kurz vor seinem Tod in einem Brief vom 7. 1. 1963: »Wie ich an dem noch immer gegen mich wirksamen Boykott und der Analyse der Ursachen erkennen kann, habe ich niemandem mehr etwas zu sagen und für niemanden zu sorgen.«

Franz Jung: Die Verzauberten. Eine Erzählung. Aus dem Nachlass herausgegeben von Walter Fähnders. 109Seiten, 12,30 EUR; Jes Petersen: Strontium. Briefwechsel mit Raoul Hausmann und Franz Jung. Herausgegeben von Andreas Hansen. 295Seiten, 19,40. Beide BasisDruck Berlin
Fritz Mierau: Das Verschwinden von Franz Jung. Stationen einer Biographie. 333Seiten, gebunden, 29,80 EUR. Bei Edition Nautilus Hamburg, wo in der Redaktion von Lutz Schulenburg auch eine 12-bändige Werkausgabe Franz Jungs erscheint.
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