Das ewige Provisorium

Sabine Böhne-Di Leo erinnert an die Entstehung der Verfassung der Bundesrepublik vor 75 Jahren

  • Volkmar Schöneburg
  • Lesedauer: 4 Min.
75 Jahre Grundgesetz – Das ewige Provisorium

Vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde das Grundgesetz, die provisorische Verfassung der Bundesrepublik, verabschiedet. Sabine Böhne-Di Leo, Professorin für Journalismus und Politik an der Hochschule Ansbach, nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, die Geschichte der Entstehung des Grundgesetzes nachzuzeichnen. Dass die Autorin keine Juristin, sondern eine profilierte Journalistin ist, gereicht dem Buch formal zum Vorteil. Es ist spannend und für den verfassungsrechtlichen Laien verständlich geschrieben. Maßgebliche Protagonisten wie Elisabeth Selbert, Carlo Schmid oder Konrad Adenauer erhalten ein menschliches Antlitz. Inhaltlich liefert die Publikation jedoch nichts Neues, ja bleibt nicht selten an der Oberfläche haften.

Die »Erfindung der Bundesrepublik« beginnt mit der Direktive der Besatzungsmächte der drei Westzonen an die westzonalen Ministerpräsidenten vom 1. Juli 1948, eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Sie endet mit der Zustimmung der westlichen Alliierten und der – an Stelle einer Volksabstimmung – Ratifizierung des Grundgesetzes durch die Landtage. Der Leser erfährt, warum die Verfassung lediglich ein Provisorium war und daher Grundgesetz genannt wurde, warum die Ministerpräsidenten ein Referendum scheuten und statt einer Verfassungsgebenden Versammlung ein Parlamentarischer Rat mit dem Entwurf der Verfassung beauftragt wurde. Der Parlamentarische Rat, dem 65 Abgeordnete aus den westdeutschen Landtagen – darunter lediglich vier Frauen – angehörten, nahm am 1. September 1948 seine Arbeit auf. Grundlage der Beratungen war der von Ministerialbeamten und Fachleuten auf einem Konvent in Herrenchiemsee formulierte Entwurf eines Grundgesetzes.

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Quasi umrahmt wird die Arbeit an der Verfassung von der in diesem Buch sehr emotionalen, ja schon heroisierenden Beschreibung der Berliner Luftbrücke. Andere Facetten des Kalten Krieges, wie die in den westlichen Besatzungszonen am 20. Juli 1948 durchgeführte Währungsreform, die der Blockade Berlins durch die Sowjetunion vorausging, werden nur flüchtig gestreift. Die Währungsreform wie auch die Ende 1948 bereits weit fortgeschrittenen Reintegration der alten Eliten sowie nominellen und aktiven Nazis beförderten aber die Reorganisation des Kapitalismus im Westen. Insofern kann von einer »Erfindung« der Bundesrepublik keine Rede sein. Die Schaffung eines Westzonenstaates war ein länger vorbereiteter, insbesondere durch die USA forcierter Prozess. Hingegen wird die Rolle der Sowjets und ihrer Besatzungszone, die sich nach Auffassung der Verfasserin auf dem Weg zum Unrechtsstaat befand, wenig differenziert.

Hinsichtlich der im Parlamentarischen Rat diskutierten Verfassungsfragen hebt die Autorin einige der wichtigsten hervor: den Einsatz von Elisabeth Selbert für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Kontroverse zur Abschaffung der Todesstrafe und zur föderalistischen Struktur der Bundesrepublik. Angemerkt wird auch, dass die Verfassung die wirtschaftliche Struktur des zukünftigen Staates offen lässt, ja über Artikel 15 sogar Sozialisierungen möglich sind.

Nicht thematisiert wird, dass die bereits Ende 1946, Anfang 1947 erlassenen Landesverfassungen in der Frage der Vergesellschaftung privatkapitalistischen Eigentums noch weiter gingen. Dies speiste sich aus der parteiübergreifenden Erkenntnis, dass der Weg in die faschistische Diktatur nur durch die spätkapitalistische Struktur der Wirtschaft und durch das Bündnis zwischen dem Management großer Teile der Wirtschaft und der NSDAP möglich geworden war. Zwar hatten sich die Machtverhältnisse mittlerweile verschoben, aber Artikel 15 und die Formel vom demokratischen und sozialen Rechtsstaat (Art. 20, 28) müssen in Kontinuität zu den Landesverfassungen ausgelegt werden. Die Regelungen sollten die Chance bieten, die Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik zur Disposition der demokratischen Entscheidung des Volkes zu stellen. Mitte der 1950er Jahre wurde die Formel in Folge der bürgerlichen Restauration auf Sozialstaatlichkeit umgedeutet. Verfassungsfragen sind eben auch Machtfragen. Aber die jüngste Aktivierung von Art. 15, um in Berlin durch die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne dem Menschenrecht auf Wohnen zum Durchbruch zu verhelfen, zeigt: Verfassungsfragen sind ebenso Rechtsfragen. Ein Feld, das durch die gesellschaftliche Linke viel stärker besetzt werden muss!

Die Autorin schlägt auch an manchen Stellen eine Brücke zur Gegenwart. Zum Beispiel verweist sie auf die Amputation des Asylrechts 1993 auf Grund fremdenfeindlicher Anschläge. Andere, aktuell »heiße Eisen«, wie etwa die Frage, ob nicht das Friedensgebot als Staatsziel zugleich ein Verbot von Waffenlieferungen erfordere, fasst sie jedoch nicht an.

Das Grundgesetz ist ein Provisorium, da seine Geltungsdauer bis zu dem Tag beschränkt sein sollte, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist (Art. 146 a.F.). Diese Situation war 1990 mit der anstehenden Vereinigung von DDR und BRD eingetreten. Doch auf eine Verfassungsdiskussion auf der Basis des Grundgesetzes und des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches der DDR ließen sich die Herrschenden nicht ein. Damit wurde die Chance vertan, Lücken im Grundgesetz, beispielsweise das Missverhältnis von politischen und sozialen Menschenrechten, das Recht der Frauen auf eine selbstbestimmte Schwangerschaft oder den Ausbau plebiszitärer Formen der Staatswillensbildung betreffend, zu diskutieren. Zugleich wurde die integrative Wirkung einer Verfassungsdebatte bewusst verworfen. Ein Umstand, der mit dazu beitrug, dass von einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf Augenhöhe keine Rede sein konnte. Der Westen und die westdeutschen Kapitalinteressen diktierten die Bedingungen der Abwicklung der DDR. Es fand ein wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, kultureller und rechtlicher Überstülpungsprozess – nicht selten unter Bruch des Grundgesetzes – statt. Alle Lebensbereiche der Ostdeutschen wurden entwertet. Diese Erfahrungen werden im Osten zum Teil noch heute auch regressiv-nationalistisch, durch rechtspopulistische Projektionen verarbeitet. Doch dies zu problematisieren, ist die Sache der Autorin leider nicht.

Sabine Böhne-Di Leo: Die Erfindung der Bundesrepublik. Wie unser Grundgesetz entstand. Kiepenheuer & Witsch, 217 S., geb., 23 €.

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