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Den Sieger erkennt man am Start. Den Verlierer auch

In ihrem Dokumentarfilm »Frohe Zukunft« erzählt die Regisseurin Bianca Bodau Nachwende-Biografien

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 7 Min.
... ihren Vater Klaus Ditze.
... ihren Vater Klaus Ditze.

Am 3. Oktober 1990 übergibt Ulrich Bodau in Rostock der Bundeswehr einen robusten Schlüssel. Es ist der Schlüssel zur Waffenwerkstatt der 4. Flottille der Volksmarine. Es ist, als gäbe Bodau mit dem Schlüssel auch sein bisheriges Leben ab. Bis zu diesem Tag leitet der Elektriker die Werkstatt, jetzt gehört sie zu einer neuen Welt. Diese Welt ist Ulrich Bodau fremd. Er wird arbeitslos und fängt an zu trinken. Er denkt: Ich habe alles verloren, was soll nur werden? Sigrid, seine Frau, resigniert auch; sie war Telefonistin auf der Warnow-Werft. Nun wird auch sie nicht mehr gebraucht. Doch Sigrid Bodau ist eine Frau und pragmatisch. Sie sucht das Machbare im Unfassbaren. Sie bringt ihren Mann dazu, in den Westen zu gehen, dorthin, wo sie niemand kennt, wo sie noch einmal von ganz vorn anfangen können. Sie laden ihre Zeulenrodaer Schrankwand auf einen teuren Möbelwagen und ziehen nach Karlsruhe.

«Als ich meine Eltern das erste Mal im Westen besuchte, war ich erschrocken«, erzählt Bianca Bodau. Sie ist das einzige Kind der Bodaus und richtete sich in Berlin gerade ein neues Leben ein, sie studiert Soziologie und später Film. »Mein Vater hat mir jedes Stück gezeigt, das er gekauft hat, selbst den Kaffee. Er kannte alle Preise auswendig. Meine Mutter hat eine Zigarette nach der anderen geraucht und huschte immer hin und her. Die Beiden waren wie paralysiert.«

Seitdem ist Bianca Bodau zerrissen. Und sie fragt sich: Was ist Gerechtigkeit? Wie sehen Chancen aus? Verschenkte, nie gekommene? Den Sieger erkennt man am Start, sagt jemand in dem Film »Es war einmal in Amerika«. Den Verlierer auch. Das Thema lässt Bianca Bodau nicht mehr los. Sie hat darüber einen Dokumentarfilm gemacht. »Frohe Zukunft« heißt er und erzählt die Geschichten von drei Familien und vier Generationen aus dem Osten nach der Wende. Am 11. November hat er in Berlin Premiere.

Vor fünf Jahren begann Bianca Bodau, 43, mit den Recherchen für das Drehbuch. Es war die Zeit der Renaissance der DDR: Ostshows im Fernsehen und im Theater, Ostrock auf Freilichtbühnen. Wohin man schaute – Ostalgie. »Das war schrecklich. Ich habe weder diesen Hype darum verstanden noch die Freude vieler Ostdeutscher an FDJ-Blusen und DDR-Fahnen.« Wieso nicht? Bianca Bodau ist selbst ein Kind der untergegangenen Republik, 1964 in Rostock-Lichtenhagen geboren, und mit Eltern, die mit dem Neuen nicht zurecht kamen. Die Mutter bis heute nicht, der Vater sich totgesoffen.

Pioniernachmittage, Jugendweihe und die Politische Ökonomie des Sozialismus sind in der Biografie von Bianca Bodau so fest verankert wie der Glaube ihrer Eltern an den Staat. Doch der Mauerfall trennt die Familie. So stark, dass die Tochter befremdet ist von der Apathie der Eltern. Sie sieht die Chancen, die die Wende mit sich bringt. In Karlsruhe beim Besuch der Eltern holt die alte Zeit sie wieder ein. Sie sagt zu ihnen: »Es passiert etwas komplett Neues, das ist gut, das müsst ihr doch auch sehen.« Im Kopf hat Bianca Bodau schon den Grundriss für ihren Film. Aber vor den Augen der Eltern läuft ein anderer Film ab – einer, in dem sie die Hauptdarsteller sind, die sie nie sein wollten.

Noch heute fragt sich Bianca Bodau, was eigentlich passiert ist seit jenen Tagen im Herbst 1989. Mit dem Land, mit den Menschen, mit ihrer eigenen Familie. Die Mutter, jetzt Witwe, putzt bei fremden Leuten und bepackt Supermarktregale. Als Ostdeutsche wird sie immer noch erkannt und bei Wohnungsbesichtigungen abgelehnt. Freunden und Ex-Kollegen der Eltern geht es anders. Einige haben ein Haus gebaut, andere neue Berufe gefunden und neue Freunde. »Die zeigen ein Anpassungsverhalten wie nie zuvor«, sagt Bianca Bodau. Verbunden bleiben Gewinner und Verlierer trotzdem, durch zwei scheinbar winzige Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich?

Diese Fragen winden sich wie eine zischelnde Schlange durch »Frohe Zukunft«, den Film, der vom Schicksal der eigenen Eltern inspiriert ist, aber weit weg von ihnen führt. Bianca Bodau porträtiert Durchschnittsfamilien, solche, die sagen: Seht her, das war mal unser Leben, dafür schämen wir uns nicht. Aber jetzt haben wir eine andere Zeit mit anderen Herausforderungen. Die wollen wir meistern, ohne dass wir uns verleugnen müssen.

Da ist Klaus Ditze, ein Mann im Alter von Bianca Bodaus Vater. Der ehemalige ökonomische Direkter des Holzverarbeitungskombinates Halberstadt war nicht in der SED und während der Wendewirren auf vielen Montagsdemos. Das ist von Vorteil in der neuen Zeit. Voller Enthusiasmus will er nun »etwas auf die Beine stellen«. Doch dann kommt die Treuhand und Klaus Ditze muss die Firma, mit der er so viel vorhatte, liquidieren. Er will einen Baumarkt aufmachen und steigt in letzter Sekunde wieder aus. Dann kauft er Teile des Kombinatsgeländes und hofft, damit Geld zu verdienen. Aber das Geschäft läuft schleppend. Klaus Ditze war Erfolg gewöhnt und kommt jetzt gerade so über die Runden.

Oder Edgar Maas. Der ehemalige Offizier der 9. Panzerdivision betreibt heute eine Versicherungsagentur. Sie läuft, wie Versicherungsagenturen eben laufen. Edgar Maas hat sein Gleichmaß gefunden. Man könnte glauben, es hat sich nicht viel verändert für ihn. Doch in seinen Augen steht die Welt Kopf. Er versucht sie zurechtzurücken, in dem er seine alte Sprache behält, eine militärische Sprache mit Worthülsen und Floskeln.

Bianca Bodau wollte einen Film machen, der nicht wertet, sondern erzählt und Innenansichten freilegt. Aber immer wieder stößt sie auf Wertungen. Keine, die den Film als Kunstwerk meinen, sondern die ihn als Statement betrachten. Ostdeutsche sagen: Nicht schon wieder DDR. Westdeutsche fragen: Und was ist mit der Stasi? »Dabei geht es nicht um die DDR und schon gar nicht um die Stasi«, sagt die Regisseurin. »Es geht um die Suche nach der eigenen Identität.«

Die Suche nach der eigenen Identität. Die Kinder der Protagonisten haben es da einfacher, meint man. Sie sind jung, unbelastet, frei. Sie haben keine Häuser, selten Kinder, sie können einfach losziehen. Wenn es sein muss, mit dem Rucksack. Die Schwestern Ilona und Liane Ditze haben es so gemacht. Sie gingen in die Welt und begaben sich auf ein Terrain, von dem ihre Eltern sagten, das sei zu gefährlich. Ilona Ditze unterrichte in einem Gefängnis in Lateinamerika Englisch und Musik, Liane lebte in Neuseeland. Doch die Kinder tragen die Geschichte ihrer Eltern mit sich herum, vielleicht stärker, als manche von ihnen ahnen.

Bianca Bodau hat heute ein schlechtes Gewissen, wenn sie daran denkt, wie sie ihre Eltern früher zurecht gewiesen hat. Dem Vater kann sie das nicht mehr sagen, die Mutter versucht sie zu verstehen. Und doch endet irgendwann jedes Verständnis. Die Alten müssen selbst zurecht kommen.

«Früher haben wir für den Sozialismus Hurra geschrien und heute fürs Geld«, sagt Dorit Maas im Film. Sie versteht immer noch nicht, warum das so ist. Die Chemie- und Biologielehrerin aus Ueckermünde hat eine Zeit lang für die SED-Kreisleitung gearbeitet. Ein Jahr darf sie nach der Wende noch unterrichten, dann wird sie entlassen. Das Gespräch führt die ehemalige Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrerin. Dorit Maas ist erstaunt über die plötzliche Wendung ihrer Kollegin und kann nicht anders, als ins Gesicht zu sagen: »Die Formel für Wasser ist immer noch H20.«

Während ihres Soziologiestudiums schätzte Bianca Bodau besonders einen Professor, für seine klugen Analysen, seine weitsichtigen Einschätzungen. Durch seine Vorträge glaubte die Studentin, die Fachrichtung habe etwas mit dem Leben zu tun und könne fantasievolle Antworten geben, die aus dem langweiligen Alltag hinausragen. Wenige Monate nach der Wende traf sie den Mann auf der Straße. Bianca Bodau fragte ihn, was das alles zu bedeuten habe. Ein kluger Satz, ein einziger Hinweis hätte ihr genügt. Aber der Professor rechnete ihr seine Rente vor und wie lange er noch schuften müsse dafür. »Die neue Zeit konnte er nicht erklären«, sagt Bianca Bodau. Die muss sie sich jetzt selbst zu erklären. »Frohe Zukunft« versucht das auch.

Regisseurin Bianca Bodau (oben) lässt Menschen über ihr Leben vor und nach der Wende erzählen ...
Regisseurin Bianca Bodau (oben) lässt Menschen über ihr Leben vor und nach der Wende erzählen ...
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