• Novemberrevolution 1918

Angeführt vom »roten Grafen«

Dramatische Ereignisse in Ungarn – Von der Asternrevolution zur Räterepublik

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 6 Min.
Revolutionäre Soldaten und Arbeiter erobern die Straßen von Budapest, 29. Oktober 1918
Revolutionäre Soldaten und Arbeiter erobern die Straßen von Budapest, 29. Oktober 1918

Neben Russland und Deutschland war auch die Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn Schauplatz der Weltkriegsrevolution 1917 bis 1919. Im ungarischen Reichsteil mit seinen 18 Millionen Einwohnern wurde ein Drittel der industriellen und die Hälfte der landwirtschaftlichen Produktion des Kaiserreiches erzeugt. In Budapest, der fünftgrößten europäischen Metropole, befanden sich 60 Prozent aller Großbetriebe und ein Drittel der Industriearbeiter des Landes. Die vorherrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse waren jedoch im Agrarsektor von halbfeudalen Strukturen überlagert. Großgrundbesitzer, die mit ihren Familien nur 0,3 Prozent der Bevölkerung ausmachten, besaßen ein Drittel der Ländereien. Zu den 184 Familien des Hochadels gehörte u. a. Graf Moric Esterhazy. Er besaß 300 000 ha Land, 700 Dörfer und 21 Schlösser. Entrechtet und verarmt waren vor allem sechs Millionen Menschen der Zwerg- und Kleinbauernfamilien, denen nur ein Drittel des Landbesitzes gehörten, sowie die vier Millionen landlosen Gutsarbeiter.

Ähnlich wie im Deutschen Reich war im zur k.-u.-k.-Monarchie gehörenden Königreich Ungarn bis zum Ausbruch des Weltkrieges eine starke Interessenvertretung für die 3,4 Millionen Angehörigen der Arbeiterfamilien entstanden: die 1890 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei mit über 72 000 Mitgliedern und die mit ihr eng verbundenen 28 landesweiten Branchenverbände, in denen 107 000 Arbeiter und Angestellte organisiert waren.

Die Sozialdemokratie war die bestorganisierte politische Kraft in der entstandenen Krisensituation des Ersten Weltkrieges. Sie wollte auch die seit der verlorenen bürgerlichen Revolution 1848/49 anstehenden Aufgaben lösen – endlich die Agrarreform verwirklichen und das autoritär-monarchistische Regime durch eine parlamentarische Demokratie ersetzen. Denn noch immer waren 88 Prozent der Bevölkerung ab dem 21. Lebensjahr vom Wahlrecht ausgeschlossen. Auch die nationalen Minderheiten der Rumänen, Slowaken, Juden, Serbokroaten, Ukrainer und Deutschen, die immerhin die Hälfte der Landeseinwohner des Königreichs ausmachten, stellten nur fünf der 413 Abgeordneten in diesem Scheinparlament.

Der Krieg verschärfte die politischen, sozialen und nationalen Widersprüche und führte zu einer gesellschaftlichen Krise, die sich im Herbst 1918 in einer Volksrevolution entlud. Auf dem Parteitag der Sozialdemokraten am 13. Oktober 1918 forderte die linkssozialistische Minderheit um den Schriftsteller Jozesef Pogany eine eigenständige proletarische Politik, die sich auf die entstehenden Arbeiter- und Soldatenräte stützen sollte. Der einflussreiche Parteiführer Szigmond Kunfi setzte aber durch, mit der linksliberalen »48-Partei« des Grafen Mihaly Karolyi und der bürgerlich-radikalen Landpartei Oszkar Jaszis zusammenzugehen. Diese drei Parteien gründeten am 25. Oktober den Ungarischen Nationalrat, der sich im Hotel Astoria einquartierte. Er forderte in einem 12-Punkte-Programm die sofortige Beendigung des Krieges, die Unabhängigkeit Ungarns, die Anerkennung der Rechte der Minderheiten in einer »Föderation ungarnländischer Nationen«, eine umfassende Agrarreform, Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit sowie das allgemeine, gleiche, auch Frauen umfassende Wahlrecht.

Der in Bedrängnis geratene Kaiser Karl I., gleichzeitig als Karl IV. ungarischer König, sah sich Ende Oktober 1918 veranlasst, den im Volk verhassten Ministerpräsidenten Isztvan Tisza durch einen anderen Politiker seines Vertrauens, Graf Janos Hadik, auszuwechseln. Das aber war das Signal für das Handeln Hunderttausender Bürger der Hauptstadt, die vor dem Schloss und dem Parlamentsgebäude, in Betrieben und anderen Einrichtungen verlangten, dass der Vorsitzende des Ungarischen Nationalrates, der »rote Graf« Karolyi, das eben vakant gewordene Amt des Ministerpräsidenten übernimmt. Der Soldatenrat, dem die Budapester Garnison unterstand, ließ die Telefonzentrale, die Staatsbank, die Post, die Bahnhöfe, die Brücken und die Militärdepots besetzen. Matrosen und Soldaten entwaffneten Offiziere, befreiten politische Gefangene und steckten als Zeichen des Sieges der fast gewaltlosen Revolution weiße Astern an Uniformen und Gewehrsläufe.

Dem Kaiser des Vielvölkerreiches blieb nun keine andere Wahl, als den 43-jährigen Großgrundbesitzer Karolyi am 31. Oktober 1918 mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Die sozialdemokratisch-bürgerliche Revolutionsregierung schloss bereits am 13. November 1918 mit dem Oberkommandierenden der französischen Balkanarmee, Marschall Louis Franchet d'Esperey den Waffenstillstand. Der linksliberale Minister Jaszi unternahm alles, um den neuen ungarischen Staat nach Schweizer Muster in eine »Föderation der ungarnländischen Nationen« umzugestalten. Das auf der Grundlage des Besitzwahlrechtes seit 1914 bestehende »Scheinparlament« gab nach längerem Tauziehen am 16. November 1918 seinen Segen und stimmte der Proklamation der Volksrepublik Ungarn zu. Damit war die 400-jährige Herrschaft der Habsburger beendet.

Aber auch die an der Front, in den Betrieben und diversen Regionen entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte waren eine starke politische Kraft. Im Zentralen Budapester Arbeiterrat arbeiteten rechts- wie linksorientierte Führer der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zusammen. Auch die aus Sowjetrussland heimgekehrten ungarischen Kriegsgefangenen wurden zu einem Faktor des Vorantreibens und der Sicherung der Revolution. Am 24. November 1918 gründete der Journalist Bela Kun (der 1939 im sowjetischen Exil ermordet werden sollte) die Kommunistische Partei Ungarns, die bis Ende des Jahres bereits 35 000 Mitglieder zählte. Mit ihren Forderungen, Großgrundbesitz und kapitalistische Unternehmen zu verstaatlichen, gewannen die Kommunisten in den Räten und Gewerkschaften, in der Arbeiter- und Bauernschaft Einfluss.

Die bürgerlich-sozialdemokratische Revolutionsregierung nahm die sozial-ökonomischen Aufgaben ihres Programms nur zögerlich in Angriff. Das lag sowohl an den Ententetruppen, die in Ungarn standen, als auch an bürgerlichen Regierungsmitgliedern. Kriegsminister Albert Bartha gab später zu: »Ich wollte die gleiche Organisation schaffen, die später in Deutschland Noske aufstellte, mit der er die Spartakusgruppe niederwarf. Ich konnte die Verfügung nur auf eigene Verantwortung treffen, musste sie sogar vor der Regierung verheimlichen.« Bartha schuf eine schwerbewaffnete »Alarmgruppe« und wollte die 8000 Mann starke Budapester Garnison auflösen. Der Zentrale Soldatenrat erreichte am 12. Dezember 1918 jedoch seinen Rücktritt. Auch andere Minister, die Ententetruppen zum »Abbremsen der Revolution« anforderten, mussten demissionieren.

Da die angekündigte Nationalisierung ausblieb, besetzten Arbeiter und Soldaten die Unternehmen. Als dies am 3. Januar 1919 Bergarbeiter und Soldaten der Garnison von Salgotarjan mit den Gruben taten, führte der Sekretär der Bergarbeitergewerkschaften, der rechte Sozialdemokrat Karoly Peyer, Standgericht ein, ließ 16 Arbeiter erschießen und 60 verhaften.

Infolge der wachsenden Unzufriedenheit unter der bäuerlichen Bevölkerung verabschiedete die Regierung am 16. Februar 1919 immerhin ein Gesetz über die Bodenzuteilung an die Landarbeiter und armen Bauern, das den weltlichen und kirchlichen Großgrundbesitz gegen Entschädigung auf 300 bzw. 120 Hektar begrenzte. Graf Karolyi, inzwischen Präsident der Volksrepublik, begann an diesem Tag mit der Aufteilung seiner Güter in Kalkapolna, aber keiner seiner Klassengenossen folgte ihm. Dorfarmut und Landproletariat enteignete nun eigenmächtig Magnaten-Ländereien.

Die sozialdemokratische Führung versuchte die Revolution zu beenden, Gewerkschaften und Räte von Kommunisten zu säubern. Mit wenig Erfolg. Bis Mitte März 1919 übernahmen Arbeiter- und Bauern-Räte in den westlichen und östlichen Landesteilen fast unblutig die Macht. Infolge des veränderten politischen Kräftegewichts bildeten am 21. März 1919 beide Arbeiterparteien eine Räteregierung. Der bisherige Präsident des Zentralen Arbeiterrates übernahm den Vorsitz, die Regierungsressorts wurden paritätisch mit sozialdemokratischen und kommunistischen Volkskommissaren besetzt. Präsident Graf Karolyi trat zurück und forderte alle Bürger auf, die Räteregierung zu unterstützen.

Prof. Gräfe ist Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN.

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