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Vichy wird rehabilitiert

  • Sidar Aydinlik-Demirdögen
  • Lesedauer: 3 Min.
Sidar Aydinlik-Demirdögen ist Bundesvorsitzende des Bundesverbands der Migrantinnen in Deutschland e.V. (www.migrantinnen.org)
Sidar Aydinlik-Demirdögen ist Bundesvorsitzende des Bundesverbands der Migrantinnen in Deutschland e.V. (www.migrantinnen.org)

Anfang dieses Monats haben sich zwei Dutzend Innenminister und Staatssekretäre aus der Europäischen Union im französischen Vichy getroffen, um die Integration von Zuwanderern zu regeln. Nicht nur die Wahl des Tagungsortes sorgte für Unbehagen: Was die Innenminister am 3. und 4. November in puncto Integrationspolitik beschlossen haben, ähnelt sehr den deutschen Integrationssünden. Man will Migranten, die die Sprache beherrschen, sich anpassen und sich ausbeuten lassen. Die anderen sollen gefälligst draußen bleiben.

Die europäischen Integrationspolitiker haben drei Hauptaufgaben ausgemacht: Migranten sollen die Sprache des jeweiligen Aufnahmelandes lernen, Kenntnisse der Werte der europäischen Gesellschaft erwerben und Zugang zu Arbeit erhalten. Hört sich gar nicht so schlecht an, mag man zunächst meinen.

Das Erlernen der jeweiligen europäischen Sprache ist an sich eine gute Sache. Doch was passiert, wenn die Sprache nicht beherrscht wird? Dann darf man nicht einreisen. Was in Deutschland bereits Realität ist, soll in Frankreich folgen: Ehegatten, die nach Deutschland nachziehen möchten, müssen Sprachkenntnisse nachweisen, um ein Visum zu bekommen. Ehepartner aus strukturschwachen Regionen, Analphabeten und sprachlich Unbegabte haben keine Chance auf Einreise. So hat Europa ein neues Instrument, um sich »unnütze« Migranten vom Hals zu halten.

Und die europäischen Werte? Was sind europäische Werte? Muss ein Migrant in Deutschland künftig deutsche oder europäische Werte lernen? Die dumme Diskussion um Werte riecht sehr nach Assimilationspolitik.

Dass im Integrations-Dreiklang der Zugang zu Arbeit zuletzt genannt wird, ist kein Zufall. In Deutschland feiern sich die Verantwortlichen für ihre Integrationspolitik, obwohl Migranten in Arbeit und Bildung noch immer krass benachteiligt werden. Ebenso wird es auf europäischer Ebene sein. »Zugang zu Arbeit« heißt für die Innenminister der Europäischen Union nicht, gleiche Zugangsbedingungen für alle zu schaffen. Vielmehr will man Migranten »auf die Sektoren hin orientieren, in denen Arbeitsplätze und Aktivitäten geschaffen werden«. Migranten als Lückenfüller also. Verwertbare Migranten sind willkommen, die anderen nicht.

Die beschlossene Integrationspolitik ist schlecht. Die Wahl des Konferenzortes war ein Skandal. Die Stadt Vichy steht für die Kollaboration des Frankreichs unter Henri Philippe Pétain mit Hitler-Deutschland. Vichy steht für ein Stück dunkle französische Geschichte. »Wir haben genug von diesem ganzen Gehabe mit der Vergangenheit!«, erklärte der französische Einwanderungsminister Brice Hortefeux.

Zahlreiche Organisationen, unter ihnen auch Gewerkschaften, hatten daher zu Protesten gegen das Treffen aufgerufen. Demonstranten haben in Gefangenenkleidung der Insassen von Konzentrationslagern gegen die Konferenz protestiert.

Ein schlimmeres Zeichen hätten die Innenminister mit ihren Beschlüssen zur Integration und ihrem Konferenzort nicht senden können. Europa will Migranten, die sich ausbeuten lassen. Und Europa hat Vichy rehabilitiert.

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