»Action und Wir-Gefühl«

11. ND-Leserreisetreffen in Wroclaw macht allen Lust auf das Zwölfte

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 5 Min.
Prof. Christa Luft: Hintergründe von Finanzkrise und Rezession
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Diese beiden Frauen verreisen nicht nur einmal im Jahr. Die eine, Wilfriede Stoeltzner, ist Rentnerin, die andere, Ellen Schaefer, Verwaltungsangestellte. Zu Hause sind sie in Kremmen, einer Brandenburger Gemeinde am nördlichen Berliner Stadtrand. Typisch märkische Fontanegegend. Davon, dass es auch anderswo in der Welt viel Erlebenswertes gibt, lassen sich die beiden immer wieder gern überraschen. Einmal im Jahr aber zieht sie nicht so sehr der Reiz der Überraschung in die Ferne, sondern etwas gut Bekanntes: das alljährliche Leserreisetreffen von Neues Deutschland.

In der vergangenen Woche fand es zum 11. Mal statt; diesmal ging es für vier Tage nach Wroclaw (Breslau). Und Wilfriede Stoeltzner, in den 70ern, und Ellen Schaefer, Anfang 50, waren wieder unter den fast 400 Teilnehmern, die mit neun Bussen aus allen deutschen Landen angereist kamen. Was sie für die ND-Leserreisetreffen so einnimmt? – »Action und Wir-Gefühl«, sagen sie.

Vorfreude in der S-Bahn

Beides begann für die beiden diesmal schon lange vor der Abfahrt ihres Busses vom Berliner Ostbahnhof. Sie nahmen mit Vorortzug und S-Bahn nämlich nicht die direkte Verbindung nach dort, sondern sich vorher noch Zeit für einen kleinen Umweg nach Spandau im Westen von Berlin. Hier stiegen verabredungsgemäß andere ND-Leserreisende zu. Großes Hallo. Im S-Bahnabteil kam Stimmung auf wie bei einem Schulausflug. Und in den 40 S-Bahnminuten von Spandau bis Ostbahnhof war dann sogar noch Zweitfrühstückszeit für mitgebrachte Würstchen, Kartoffelsalat, Stolle und einen Piccolo.

Exemplarisch für solcherart Einstimmung auf das ND-Leserreisetreffen sind natürlich nicht diese konkreten kommunikativen und lukullischen Umstände. Exemplarisch ist allerdings diese Art von Vorfreude auf erlebnisreiche vier Tage zusammen mit hunderten Gleichgesinnten. So jedenfalls versichern es sich die, die oft zum wiederholten Male dabei sind ebenso gern untereinander wie auch den Organisatoren: auf Veranstalterseite die Neustrelitzer Bus Touristik Organisation (BTO) mit ihrem Chef Dr. Klaus Mewes, auf ND-Seite die Verlagsmitarbeiterinnen Dr. Irene Kohlmetz und Uschi Pätzel.

Nabucco mit Dirigentin

In den Vorjahren war die Tour mal nach Oberhof oder Timmendorfer Strand gegangen, nach Bad Kissingen oder Zinnowitz. Diesmal also Wroclaw Orbis-Hotel, ganz nahe der Altstadt von Polens Venedig. Denn Wroclaw, an der Einmündung der Ohle in die Oder gelegen, erstreckt sich über zwölf Inseln, die durch immerhin 112 Brücken verbunden sind. Pro Kopf der über 600 000 Einwohner (davon über 140 000 Studenten!) gerechnet, ist Wroclaw die grünste Stadt des Landes. Wohingegen sie sich bei den Kirchen – gut 80 alte und etwa 30 in den letzten 30 Jahren entstandene – eher im statistischen Hinterfeld befinden dürfte. Das rund 130 Jahre alte Opernhaus ist jüngst renoviert worden und hat eine Frau als Intendantin. Ewa Michnik dirigierte hier auch ihre Nabucco-Inszenierung für die ND-Reisegesellschaft.

Die einstige Hansestadt fällt heute durch einen klasse Nahverkehr mit Skoda-Straßenbahnen und Mercedes-Bussen auf sowie durch eine ausufernde Bautätigkeit. Historisch ist aus dem einstigen Wortizlawa der erste Streik im Heiligen Römischen Reich überliefert, nämlich der der Gürtlergesellen im Jahr 1329. Viel später saß hier Rosa Luxemburg im Gefängnis. Heute gibt es mehrere Denkmäler für die Opfer des Kommunismus. Ein aktuelles Denkmal für die Befreier vom Faschismus gibt es nicht. Dafür sprechen riesige sowjetische Soldatenfriedhöfe mit zehntausenden Gefallenen aus der 80-tägigen Schlacht um Breslau im Frühjahr 1945 ihre eigene Erinnerungssprache.

Geschafft, aber zufrieden

Das Programm des ND-Leserreisetreffens hatte es wieder in sich. »Abends ist man immer ziemlich geschafft wegen der vielen Eindrücke, aber man will ja auch nichts verpassen«, räumen Anita und Friedhold Kürth aus Berlin ein. Aber sie machen dabei einen ganz zufriedenen Eindruck. Ähnlich Walter Hähnel aus Lübeck, der mit seinen 95 Jahren diesmal der Senior der Truppe war. Die Tage mit so vielen linken Leuten zusammen hielten ihn fit, meint der ehemalige Präparator und Geologe. Ab und an könnte es sogar mal etwas kontroverser zugehen bei den Gesprächsrunden, meint er. »Auch noch mit 100 zum ND-Leserreisetreffen«, das wäre doch was, blickt er schon mal in die nähere Zukunft.

»Ich bin dafür, dass die Linken diese Gesellschaft stets eindeutig als eine kapitalistische benennt, als eine auf Profit setzende Klassengesellschaft. Und, dass sie programmatisch deutlich macht, wie sie diese Gesellschaft verändern will.« Spontanen Beifall erntete Prof. Christa Luft, renommierte Wirtschaftswissenschaftlerin und langjährige ND-Kolumnistin, dafür in der Gesprächsrunde zu »Finanzkrise und Rezession«. Dr. Dagmar Enkelmann, MdB und 1. Parlamentarische Geschäftsführerin der Linkspartei, fesselte die Zuhörer mit aktuellen innenpolitischen Hintergründen. Dieter Kollark, Trainer der Diskusweltmeisterin Franka Dietzsch, offerierte Expertenwissen um Dopingsumpf im Profisport sowie lichte und dunkle Seiten des bundesdeutschen Sportsystems. Zu ihren jüngsten Büchern standen die Autorin Waltraud Hagen sowie ND-Literaturredakteurin Dr. Irmtraud Gutschke Rede und Antwort. Der Verleger Elmar Faber plauderte aus dem Nähkästchen darüber, wie Bestseller »gemacht« werden. ND-Geschäftsführer Olaf Koppe und ND-Chefredakteur Jürgen Reents gaben einen vielfach lobend wie bis kritisch hinterfragten aktuellen Werkstattbericht.

Plötzlich Grabestille

Natürlich wurden auch Ausflüge in die Umgebung von Wroclaw gemacht. In Swidnica (Schweidnitz) gab es die evangelische Friedenskirche, die wohl größte europäische Fachwerkkirche zu bestaunen. Im nahen Dörfchen Krzyzowa (Kreisau) konnte man die Gründungsstätte der Hitlergegner des Kreisauer Kreises um Helmuth James von Moltke kennen lernen. Aus dem 12. Jahrhundert stammende Zisterzienserkloster beeindruckten in Trzebnica (Trebnitz) und Lubiaz (Leubus).

Auf der Rückfahrt von dort nach Wroclaw ging es auch durch Brzeg Dolny (Dyhernfurth). Die Stimmung im Ausflugsbus war locker bis ausgelassen. Da informierte die Reiseführerin Christina, dass auch in der ortsansässigen Chemiefabrik, einst zur IG Farben gehörig, Giftgas für das nazideutsche Vernichtungslager Auschwitz produziert worden war. Im Bus herrschte plötzlich Grabesstille.

Das ND-Leserreisetreffen, so entschieden die diesjährigen Teilnehmer mehrheitlich, findet 2009 in Oberwiesenthal statt. Und so sie gesund und munter bleiben, werden auch Wilfriede Stoeltzner und Ellen Schaefer wieder dabei sein.

ND-Leserreisen, Dr. Irene Kohlmetz und Uschi Pätzel, Neues Deutschland, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Tel.: (030) 2978-1621, -1620. Fax: -1650, E-Mail: leserreisen@nd-online.de

Friedenskirche in Swidnica von 1688
Friedenskirche in Swidnica von 1688
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