Von Hartz IV und Indianern

Beobachtungen bei den 44. Solothurner Filmtagen

  • Heinz Kersten
  • Lesedauer: 3 Min.
Im Film »Home« spaziert Isabelle Huppert über »ihre« Autobahn
Im Film »Home« spaziert Isabelle Huppert über »ihre« Autobahn

Alleinerziehender türkischer Vater verliert seinen Chauffeursjob, muss darauf als Hartz IV-Empfänger samt Tochter in eine kleinere Wohnung umziehen und sieht sich in seinen Albträumen in schwarzen Wäldern das Harz von den Bäumen schlecken. Angeregt wurde er dazu von Problembär Bruno, dem der gebürtige Züricher Braem auch seinen Diplomfilm an der Babelsberger HFF »Im Wendekreis des Bären« widmete. Die tödlich endende Bärenhatz in den bayerischen Wäldern ist längst vergessen, aber Hartz IV gibt es immer noch, wovon jetzt dank der kleinen schwarzhumorigen Komödie auch das sonst mit deutscher Sozialtristesse kaum vertraute Schweizer Publikum der Solothurner Filmtage erfuhr.

Die alljährliche Werkschau der eidgenössischen Kinematografie erwies sich auch sonst wieder als Spiegel nicht nur heimischer, sondern auch weltweiter Probleme. Als Parabel einer Gesellschaft, in der sich alles um Geld dreht, wofür selbst der Mensch zur Ware wird, erzählt Dominique Rivaz, deren Film »Mein Name ist Bach« vor Jahren auch in unsere Kinos kam, in »Luftbusiness« die Geschichte dreier jugendlicher Obdachloser. In einer Online-Verkaufsauktion bieten sie das einzige an, was sie haben: ein junger russischer Emigrant seine Kindheit, ein anderer seine alten Tage, der Dritte seine Seele. Eine Sozialstudie einmal anders: als fast surrealistisches absurdes Drama. Dabei kann man aktuell auch an den Handel mit immateriellen Luftblasen durch unsere Banker denken.

Als anderen Außenseitern der Gesellschaft gilt das Interesse Schweizer Filmemacher auch mehrfach Migranten. Schicksale zwischen Flucht vor Krieg, Verfolgung und Armut und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der Schweiz kommen in einer darüber entscheidenden Durchgangsstation zusammen, deren Alltag Fernand Melgar in seiner Dokumentation »La forteresse« beobachtet.

Ein Asylbewerberheim steht auch im Mittelpunkt des Spielfilms »Canzun Alpina – Stimmen des Herzens« von Sören Senn, der ein Regiestudium an der HFF »Konrad Wolf« in Babelsberg absolvierte. Ohnehin in einem kleinen Bündner Dorf umstritten, gerät die Zuflucht in den Strudel von Ereignissen, ausgelöst von Anna, der jungen Lehrerin, die dort Sprachunterricht erteilt. Eigentlich hatten sie und ihr Freund sich auf die Geburt ihres Kindes gefreut, doch die Überraschung ist groß, als das Baby dunkle Hautfarbe hat. Nicht nur die Sangesbrüder und -Schwestern der beiden darob entzweiten Mitglieder des Gemeindechors zerreißen sich die Mäuler, der Bürgermeister möchte den Zwist auch auf den Rücken der daran ganz unschuldigen Heimbewohner austragen, sie loswerden und aus ihrem Domizil ein Luxushotel machen. Für ein Happy End sorgt aber schließlich ein multiethnischer Chor, der bei einem Wettstreit den ersten Preis für das Dorf gewinnt. In Alpenlook ein sympathisches Plädoyer für Toleranz.

Zeiten zunehmender Unsicherheit lassen die Sehnsucht wachsen nach einer heilen Welt, und die wähnen manche Schweizer wie in der »guten alten Zeit« immer noch auf dem Lande. Vielleicht erklärt sich auch so, dass ein Dokumentarfilm über eine Urner Bergbauernfamilie, »Bergauf Bergab«, mit 48 377 Zuschauern im vergangenen Jahr zur erfolgreichsten heimischen Produktion an der Kinokasse avancierte. Im Gesamtangebot von 560 Filmen war der Anteil von Hausgemachtem mit 3,1 Prozent bescheiden. So viel Interesse wie in Solothurn finden die eigenen Filmemacher sonst nirgends. Hier sind die acht Spielstätten der zum 44. Mal durchgeführten Veranstaltung meist überfüllt.

Im Spielfilm »Du brut dans la tete« von Vincent Pluss stehen die Protagonisten in Genf für menschliche Einsamkeit und Unfähigkeit zu kommunizieren. Hauptdarstellerin Céline Bolomey gehört zu den Shooting Stars des Jahres, die sich bei der Berlinale präsentieren werden. Herausragend auch »Home« von Ursula Meier: ein Öko-Märchen von einer idealen Familie (als Mutter Isabelle Huppert), die in einem Haus dicht an einer seit Jahren nicht in Betrieb genommenen Autobahn lebt. Als die Straße unerwartet doch für den Verkehr freigegeben wird und die Bilder an Godards »Weekend« erinnern, bedeutet das die endgültige Zerstörung der Idylle.

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