Der Raum des Forums ist da, um geöffnet zu werden

WSF-Mitgründer »Chico« Whitaker sieht weiter große Perspektiven

  • Lesedauer: 5 Min.
Francisco »Chico« Whitaker Ferreira (77) gehört zu den Gründern des Weltsozialforums (WSF) und ist Mitglied in dessen brasilianischem Organisationskomitee sowie im Internationalen Rat des Weltsozialforums. Whitaker begann sein soziales Engagement in den 50er Jahren als Architekturstudent und Mitglied der katholischen Studentenbewegung. Während der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien in den späten 60er Jahren ging er ins Exil nach Frankreich. In Belém sprach Gerhard Dilger mit ihm.
Francisco »Chico« Whitaker Ferreira
Francisco »Chico« Whitaker Ferreira

ND: Herr Whitaker, in den großen Medien des Nordens spielt das Weltsozialforum in diesem Jahr kaum noch eine Rolle. Woran liegt's?

Francisco »Chico« Whitaker Ferreira: Der Kampf um Sichtbarkeit ist schwierig. Wir organisieren das Forum ja zeitgleich zu Davos, um leichter eine mediale Schneise schlagen zu können. Doch die Vorstellung, der Markt ist keine Lösung, ist extrem subversiv. Dem System, das die großen Medien im Grunde kontrolliert, liegt nichts daran, das zu verbreiten.

Dennoch war das weltweite Medieninteresse von 2002 bis 2004 enorm ...

Damals trat die Zivilgesellschaft als mächtiger politischer Akteur in Erscheinung, das war das Neue. Doch der Forumsprozess als solcher ist unsichtbar, das macht es uns schwer. Der Wandel erscheint nicht als etwas Spektakuläres, er vollzieht sich durch langsames Eindringen. Doch die Tatsache, dass in Lateinamerika viele Präsidenten gewählt wurden, die mehr mit den Anliegen der Völker verbunden sind, ist ein Zeichen für diese Stärke der Zivilgesellschaft, die sich auch über Parteien hinwegsetzt. Die Staatschefs, die hier waren, haben bekräftigt, dass sie wegen der sozialen Bewegungen an die Macht gekommen sind.

Wäre es nicht hilfreich, ganz offiziell drei, vier griffige und konsensfähige Forderungen herauszugreifen?

Nein, das wäre das Ende des Forums. 2003 wollten das viele mit den Protesten gegen den Irak-Krieg machen, aber diese Frage hat die Brasilianer weniger bewegt als die Europäer. Beim Antikapitalismus ist es umgekehrt. Deswegen sagen wir, wir sind gegen den Neoliberalismus, aber das Gegenmodell gibt es nicht! Und schon gar nicht könnte es dekretiert werden, es muss von unten nach oben wachsen, sonst hat es tönerne Füße. Jedes Modell, das von oben aufgedrückt wird, zerspringt, sobald seine Propheten verschwinden.

Jeder Paradigmenwechsel geht mit einem großen kulturellen Wandel einher. Hinzu kommt der Aspekt der persönlichen, inneren Transformation, sowohl bei den Wortführern als auch bei den Bürgern. Es geht um Änderungen im Verhalten. Es bringt überhaupt nichts, hier mit einer großen schönen Idee herauszukommen. Wir machen das lieber mit vielen kleineren Dingen, die zusammengenommen den Wandel ausmachen.

Trotzdem flackert die alte Debatte zwischen »Horizontalisten« wie Ihnen und den »Vertikalisten« immer wieder auf ...

Die ist überwunden. Niemand will aus dem Forum eine Bewegung machen.

Ganz stimmt das ja nicht, die brasilianischen Gewerkschafter oder der Soziologe Emir Sader zum Beispiel sehen das anders.

Wenn es nach denen ginge, würde Hugo Chávez das Forum eröffnen nach dem Motto: Die Regierung wird's schon richten. Wir dagegen finden, dass es eine Lösung nur mit der gesamten Gesellschaft gibt. Sie muss neue Werte und Verhaltensweisen annehmen.

Was war neu in diesem Jahr?

Zum ersten Mal sind hier die Indígenas so massiv aufgetreten, ähnlich wie 2004 in Mumbai (Bombay) die Dalits, und sie haben gesagt, wir existieren, hört auf unsere Anliegen! Hier hat sich eine Gruppe getroffen, die sich überlegt, wie man erfolgreiche, aber weitgehend unsichtbare Initiativen bekannt machen könnte, es gibt Tausende davon. Eine Untersuchung in den USA hat gezeigt, dass dort bereits 50 Millionen Menschen jenseits der Konsumlogik leben. Das muss bekannt gemacht werden! Oder das Forum über Wissenschaft und Demokratie, das sich jetzt gebildet und ein Manifest über Gemeingüter erarbeitet hat.

Und formal?

Bisher haben die sozialen Bewegungen immer ganz am Schluss ihre Erklärung verabschiedet. Sie haben damit viel Verwirrung gestiftet, bei vielen entstand der Eindruck, das sei die offizielle Forumsposition. Diesmal haben sie ihre Erklärung schon zwei Tage vorher publik gemacht, und am Sonntag haben sie ihre Forderungen als eine von vielen Gruppen vorgestellt. Das ist ein enormer qualitativer Sprung. Natürlich wird auch jetzt im Internationalen Rat wieder der Ruf nach einem politischen Programm laut werden. Dann sagen wir: Macht es doch, aber hier wird niemand ausgeschlossen. Der Raum ist da, um geöffnet, erweitert zu werden.

Dennoch, das war hier das brasilianischste aller Foren.

Nun, in Mumbai 2004 war es das indischste, in Nairobi 2007 das afrikanischste, das ist normal. Hier ging es ja vor allem um Amazonien, nicht um Brasilien.

Wie geht es weiter?

Höchstwahrscheinlich wird es alle zwei Jahre eine zentrale Veranstaltung geben und dazwischen regionale und thematische Foren. So ist ein Forum über Migration in Mexiko im Gespräch, und 2010 wird es wahrscheinlich wieder einen globalen Aktionstag geben, doch viel größer und besser als letztes Jahr. Jetzt ist der Vorschlag aufgetaucht, das Forum 2011 in den USA auszurichten. Brasiliens Präsident Luiz Inacio »Lula« da Silva hat zugesichert, sich in diesem Fall bei seinem US-Kollegen Barack Obama dafür einzusetzen, dass die Visumsfrage kein Problem wird.

Wie lautet Ihr Fazit?

Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sondern dringend nötig, denn die ganze Welt durchlebt eine Phase enormer Perplexität, und die Lösungen des Forums werden mehr gehört werden denn je. Das Forum hat eine Gruppe vergessener Völker in den Fokus gerückt, die Indígenas, die Flussbewohner, die afrobrasilianischen Gemeinschaften. Die Vorschläge, die hier erarbeitet wurden, sind ausgereifter denn je.

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