Fischlein unterm Eis
Freitod im Gefängnis: Kurt Demmler
Nicht jeder Blick in der Bahn weiß genau/ Und es gibt Worte, die würden zer- stören/ Nicht jedes Mädchen ist schon eine Frau/ Da will man noch nicht einem andern gehören/ Nicht überspringen die Küsse im Flur/ Nicht gleich im Zimmer aufs Bette sich setzen/ Und dann ›Thema 1‹ in direktester Tour/ Und alles was gut ist, mit Grinsen zerfetzen«. Ja Kurt Demmler konnte ganz einfühlsam sein in seinen Liedern, wie diese Zeilen aus »Zart soll es bleiben« – frühe 1960er Jahre – zeigen. Da war er Medizinstudent, kam mit 22 Jahren zum Oktoberklub. Demmler begann bald mit Rocktexten – mehr als 10 000 wird er geschrieben haben. War damit wohl der produktivste Liedtexter der DDR, »und er war der Beste von uns«, so einmal seine Kollegin Gisela Steineckert.
Einer der wohl bekanntesten Texte von Kurt Demmler ist der Nina-Hagen-Schlager »Du hast den Farbfilm vergessen«. Zu seinen traurig-schönsten Liedern gehört »Wie ein Fischlein unterm Eis«, gesungen von Dirk Michaelis. Politisch war Demmler nicht nur mit seinen Zeilen vom »Riesen, der Tausend Nasen hat/ Er braucht nur zu niesen, und wendet das Blatt«. Agenturen haben gestern noch einmal zusammengestellt, für wen Kurt Demmler denn so alles geschrieben hat: Karat, die Puhdys, Manfred Krug, Harald Juhnke, Omega, Yvonne Catterfeld, Die Prinzen. Nie zu vergessen auch »Wenn ich eine Schneeflocke wär« für Veronika Fischer. Kurt Demmler hat gegen Biermanns Ausbürgerung genauso protestiert, wie er am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz vor einer halben Million Demonstranten sein Spottlied auf ein einschlägiges Fachministerium »Irgendeiner ist immer dabei« sang. Demmler hatte in seinen Liedern ein hochmoralisches Verhältnis zur Welt. Als Mensch ist er mit seinen Obsessionen, seinen Süchten und Sehnsüchten nicht fertig geworden. Kollegen wussten davon, redeten aber weniger mit ihm, sondern nur unter vorgehaltener Hand. Und so kam es zu einem Prozess, über den auch auf diesen Seiten berichtet wurde (ND vom 23. Januar).
Gestern morgen wurde der wegen Kindesmissbrauchs angeklagte Liedermacher Kurt Demmler in seiner Zelle tot gefunden. Er wollte, konnte, sollte den zweiten Verhandlungstag mit den ersten Zeugenaussagen von sechs Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren, die er zwischen 1995 und 1999 mehrfach missbraucht haben soll, nicht mehr erleben. »Mit dem Tod des Angeklagten ist ein Verfahrenshindernis eingetreten, welches zur Folge hat, dass das Gericht das Verfahren einstellen muss«, verkündete das Berliner Landgericht.
Demmlers Lieder bleiben in der Welt, aus der ihr Schöpfer sich gestern mit 65 Jahren mit einem Strick um den Hals verabschiedete.
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