• Politik
  • Streitfall Europa: Parteitag der LINKEN berät über EU-Wahlprogramm und Kandidatenliste

»Wir sind nicht besser, als wir sind«

Birgit Daiber: Linke muss Strategien für Europa entwickeln / Pflöcke in Brüssel eingeschlagen

  • Lesedauer: 6 Min.
Eine »muntere Debatte« gebe es in der LINKEN über die Europapolitik, meint Parteichef Lothar Bisky. Dabei dachte der erwartete Spitzenkandidat zu den Europawahlen auch an den Streit um die weiteren Listenplätze seiner Partei. Kritikern des vom Bundesausschuss vorgelegten Vorschlags fehlen zugkräftige Namen und Kenner der EU-Politik auf der Liste. Die Leiterin des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Birgit Daiber, selbst früher EU-Abgeordnete der Grünen, beobachtet die linke Europapolitik seit Jahren. Mit ihr sprach in Brüssel Uwe Sattler.
Streitfall Europa: Parteitag der LINKEN berät über EU-Wahlprogramm und Kandidatenliste: »Wir sind nicht besser, als wir sind«

ND: Seit Monaten gibt es in der LINKEN Diskussionen um das Europawahlprogramm und die Kandidaten für die Wahl zum EU-Parlament. Was ist an diesen Themen und am Parteitag so wichtig?
Daiber: Es ist das erste Mal seit der Gründung der neuen Partei, dass ein überregionales gemeinsames Wahlprogramm und eine gemeinsame Liste aufgestellt werden. Es ist aber zugleich die Frage, welche Ausrichtung die Europapolitik der deutschen Linken haben soll. Und da gibt es erheblichen Klärungsbedarf.

Das Europäische Parlament lässt sich kaum mit den nationalen Volksvertretungen vergleichen.
Die Kultur des Europäischen Parlaments ist eine ganz andere als jene, die wir aus dem Bundestag kennen. Es gibt in diesem Parlament keine Trennung zwischen Oppositions- und Regierungsbank, sondern wechselnde Mehrheiten, die man sich erarbeiten muss. Dazu sind auch Kompromisse notwendig – zwischen verschiedenen Staaten, unterschiedlichen Interessen, zwischen den beteiligten Institutionen und nicht zuletzt zwischen Parteien. Es ist für Linke nicht immer ganz leicht zu verstehen, dass man zur Durchsetzung von Verbesserungen die eigene Position nicht immer hundertprozentig einhalten kann. Zudem sehen die legislativen Rechte des Europäischen Parlaments anders aus: Es gibt genuine Rechte, wie das Haushaltsrecht, und Mitentscheidungsrechte. Das EP hat kein eigenständiges Initiativrecht, das liegt bei der EU-Kommission. Allerdings kann das Parlament die Kommission auffordern, aktiv zu werden. Wer zum ersten Mal in das Parlament kommt, muss zunächst diese Regeln lernen und braucht Zeit, die Kooperations- und Abgrenzungsstrukturen zu verinnerlichen.

Wie lange dauert das?
Normalerweise braucht ein »Neuling« allein ein halbes Jahr, um die Geschäftsordnung richtig kennenzulernen, und noch länger, um die komplizierten Entscheidungsprozesse für die unterschiedlichen Politikfelder zu begreifen und souverän handeln zu können. Weitere eineinhalb Jahre kann es dauern, bis er sich in seinen Ausschüssen so platziert hat, dass er als Berichterstatter für einen qualifizierten Bericht benannt wird.

Was ist unter einem Bericht zu verstehen?
Einerseits sind es Berichte zu Gesetzen der EU mit gesetzlicher Bindungskraft in den Mitentscheidungsverfahren, andererseits Stellungnahmen und Handlungsaufforderungen an die europäischen Institutionen. Daneben gibt es noch die Möglichkeit von eigenen Initiativberichten des Parlaments zu verschiedenen Themen.

Damit könnten auch linke Parlamentarier in die europäische Politik eingreifen.
Ja. Dazu müssen wir uns aber klarmachen, wo die Linke konkret eingreifen muss. Das sind vor allem Sozialpolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, Umwelt- und Verbraucherschutz, die Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie nicht zuletzt die Zusammenarbeit Europas mit den anderen Weltregionen. In diesen Kernbereichen wird durch die EU das Leben aller Menschen in Europa und der Welt bestimmt.

Wie sehen Sie angesichts dieser Aufgaben die Arbeit der sieben Abgeordneten der LINKEN?
Ich beobachte seit zwei Legislaturperioden, wie die deutschen Linken in der Europapolitik wirken. Auf der europäischen Ebene – nicht aus Sicht der Bundesrepublik – gibt es vier Abgeordnete, die ihre linke Handschrift hinterlassen haben: Gabi Zimmer, André Brie, Sylvia-Yvonne Kaufmann und Helmuth Markov. Markov steht als Vorsitzender des Ausschusses für internationalen Handel jenem Gremium vor, das für die anderen Weltregionen zentrale Bedeutung in der Zusammenarbeit mit Europa hat. Dass er diesen Ausschuss »bekommen« hat, ist vor allem seiner persönlichen Reputation geschuldet, dort hat er auch linke Pflöcke eingeschlagen. Brie war nicht nur Berichterstatter zu Afghanistan, sondern auch zu einem so komplizierten Thema wie der Marktüberwachungsrichtlinie, die ein großer Fortschritt für den Verbraucherschutz ist. Sylvia-Yvonne Kaufmann saß im Verfassungskonvent und hat sich für die sozialen Grundrechte und für die zivilgesellschaftliche Beteiligung an europäischen Prozessen eingesetzt. Gabi Zimmer schließlich hat als Berichterstatterin zu sozialer Integration und Armutsbekämpfung einige richtungweisende Positionen für die Entwicklung des sozialen Europas erreicht. Alle Abgeordneten der LINKEN waren zudem maßgeblich an den Kampagnen gegen die Dienstleistungs- und die Flüchtlingsrichtlinie beteiligt. Insgesamt ist die Arbeit der deutschen linken Parlamentarier eine Erfolgsgeschichte.

Wird diese Arbeit kontinuierlich fortgesetzt werden können?
Mit völlig neuen Abgeordneten hätte ich da Bedenken. Der Schatz an Erfahrungen, der heute in der Gruppe der LINKEN vorliegt, sollte nicht verspielt werden.

Daneben gibt es aber noch ein anderes Problem: In der Partei der LINKEN will man offensichtlich ganz von vorn anfangen. Was zugleich die Gefahr in sich birgt, die in PDS und Linkspartei mühsam erarbeiteten Vorstellungen zu einem demokratischen Sozialismus und die damit verknüpften Handlungsoptionen über den Haufen zu werfen.

Gerade Brie, Markov, Zimmer und Kaufmann stehen aber unter Kritik – weil sie nicht in jedem Fall die geschriebene oder ungeschriebene »Parteilinie« umgesetzt haben. Beispielsweise mit der Forderung, die Menschenrechte müssten auch in Kuba eingehalten werden.
Die Komplexität des europäischen Prozesses ist mitunter nur sehr schwer zu vermitteln. Wir müssen die EU so wie den Kapitalismus verstehen: ein zerstörerisches System, das unter bestimmten Bedingungen aber auch der Träger von Demokratie und Zivilisation sein kann. Diese Wahrnehmung des Doppelgesichts hatte sich die PDS einst erarbeitet. Wir können nicht die uns genehmen Themen selektieren, sondern wir müssen uns als Marxisten in der Gesamtheit der Widersprüche bewegen.

Ist die deutsche Linke trotz der wiederholten Aussage, sie sei proeuropäisch, in ihrer Haltung zu Europa und zur EU gespalten?
Ja.

Die Differenzen zu Europa werden in Essen offenbar vor allem über die Kandidaten zur Europawahl ausgetragen. Ist es nicht ein schlechtes Zeichen für das Wahljahr 2009, wenn sich die LINKE vor allem mit Listen statt mit Programmen beschäftigt?
Wir sind nicht besser, als wir sind.


Hintergrund - Fakten und Zahlen zum Parteitag

Delegierte. Stimmberechtigt auf dem Europaparteitag am 28. Februar in Essen sind die für den 1. Parteitag der LINKEN 2008 in Cottbus – auf zwei Kalenderjahre – gewählten Delegierten. Die Mandate wurden über Landesverbände und Zusammenschlüsse der Partei (z.B. Arbeitsgemeinschaften) vergeben. Über 500 Delegierte werden erwartet.

Europawahlprogramm. Der Parteivorstand der LINKEN hatte den ersten Entwurf des Europawahlprogramms Anfang Oktober 2008 vorgelegt. Von Kreisen in der Partei wurde dieser als zu »europafreundlich« kritisiert; das überarbeitete Dokument wiederum stieß auf Skepsis bei jenem Parteiflügel, der sich als kritisch-konstruktiv gegenüber der EU versteht. Inzwischen liegen über 60 weit reichende Änderungsanträge mit zahlreichen Unteranträgen vor. Das Europawahlprogramm wird als Leitantrag in Essen abschließend debattiert und beschlossen.

Vertreterversammlung. Das Gremium bestimmt im Anschluss an den Europaparteitag die Kandidaten für die Wahl zum EU-Parlament am 7. Juni. Obwohl formal eigenständig, ist die Vertreterversammlung überwiegend aus Parteitagsdelegierten zusammengesetzt. Trotz der erheblichen Unterschiede in der Mitgliederzahl in Osten und Westen (etwa 54 000 zu 15 000) sind die etwa 500 Mandate der Vertreterversammlung nahezu paritätisch unter den Landesverbänden in den alten und den neuen Bundesländern aufgeteilt.

Wahlliste. Die Besetzung der Wahlliste erfolgt nach Proporz zwischen Ost und West, zwischen Männern und Frauen. Der Bundesausschuss hat am 10. Januar einen Vorschlag für die ersten 16 Listenplätze beschlossen, über die in Essen einzeln abgestimmt wird. Insgesamt werden 30 Kandidaten benannt. Von den bisherigen Abgeordneten der LINKEN im Europäischen Parlament hat der Bundesausschuss nur Gabi Zimmer vorgeschlagen.
(sat)
Protestaktion der Linksfraktion im EU-Parlament.
Protestaktion der Linksfraktion im EU-Parlament.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal