Misanthrop und Muttersöhnchen

Im Theater Eigenreich wüten sinnbildhaft düstere »Krieger im Gelee«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Wicki Kalaitzi (l.) und Stephan Baumecker
Wicki Kalaitzi (l.) und Stephan Baumecker

Wo keine Freiheit ist, ist auch kein Böses, sinniert Martin. Dann aber tanzen im »Hirngelee« kleine Krieger, die sich gegen den Freiheitsentzug wehren, ihm einhämmern, er sei frei zu tun, was er wolle. Ob wirklich jene »Krieger im Gelee« verursachen, was sich in Claudius Lünstedts Stück zuspitzt, beantwortet die deutsche Erstaufführung nicht. Diese 19. Produktion im Theater Eigenreich ist mit zweieinhalb Stunden Länge zwar opulent aber dicht komponiert – und ziemlich abgedreht. Lange ahnt man nicht, worauf sie hinausläuft, die Schlusspointe überrascht. Federn, derzeit auf Berliner Bühnen en vogue, sind auch hier das Hauptrequisit. Zwei Männer betreten vor dem Video eines Vorhangs zu Tangomusik die Szene, bestreuen sich mit dem weißen Vogelkleid wie mit flüchtig schwebenden Träumen. Es folgen 90 Minuten parallele, expressionistisch auflodernde Monologe zweier Ich-Erzähler, mit abgehackten, unvollständigen Sätzen. Gehetzt stürzen aus den Figuren ihre Geschichten heraus.

Martin probt den Rückzug aus dem Leben, verlässt tagelang nicht mehr seine Wohnung. Mervin, 14-jähriger Sohn aus gutem Haus und Musterschüler, muss fechten, weil das dem Vater gefällt und er die Eltern nicht enttäuschen mag. Vor ihrer zudringlichen Liebe flieht er in eigene Welten. Als er einmal unwohl daheim bleibt, erhält er einen mit drei Kreuzen und Blutfleck unterzeichneten Brief. Ein Fremder lädt ihn zum Treff an einer Brücke, lockt mit einer Kreuzfahrt. Verfasser ist Martin. Vorm Uhrengeschäft ist dem der Junge aufgefallen, er hat ihn verfolgt, die Adresse erkundet. Denn Martin ist nun endgültig aus der Bahn geworfen: Ein Kritiker hat sein Lieblingsbuch, geformt aus Federn, verrissen, das empfindet er als persönliche Attacke, schämt sich. Mervin, der sich andernorts schämt, weil ihm eine teure Uhr aufgedrängt wird, antwortet dem Unbekannten. Zwei Menschen in Bedrängnis stoßen aufeinander.

Die Figuren und ihre Monologe verflechten sich, umkreisen denselben Tathergang, werden nie zum Dialog. Denn zu verschieden sind die Motivationen. Mervin sucht den Ausbruch ins Abenteuer, Martin will an ihm die Schmähung seines Buchs rächend nachvollziehen. Er schlägt den Jungen zu Boden, stülpt ihm einen reißfesten Sack über, transportiert ihn im Mietauto zum Veterinärhof, wo er mit totem Getier verbrannt werden soll. Ein Arbeiter entdeckt den Schwindel: der promovierte Tierarzt Dieter, der bei Mervins Eltern als Gärtner jobbt. Ein Streifenwagen bringt das blutende Kind zurück zur schweigenden Elternliebe. Doch Dieter ist Martins bester Freund, und so bestellt ihn Martin, verunsichert, zum Gespräch, bittet um Hilfe.

Der Teil nach der Pause gehört Katrin. Kokett monologisiert sie, wie sie Dieter »gepflückt« hat, dass sie Martin nicht mag, seine Story mit dem Jungen für ein Lügengespinst, Hilfe für unnötig hält. Stück um Stück entblättert sich ihr Leben mit Dieter. Der sei schuldgepeinigt zusammengebrochen, so Katrin, habe eingeliefert werden müssen, ihre Briefe würden unbeantwortet bleiben. Es ist letztlich Dieter, der nie auftritt, in dem sich die Konflikte schneiden.

Musik, Video, Tanz begleiten Aureliusz Smigiels spielintensive Inszenierung zwischen Psychodrama und Krimi, die von der fast unheimlichen Präsenz ihrer drei Protagonisten lebt. Paul Schröders Mervin tänzelt hingegeben und gestisch brillant von Depression zu Wutanfall, Stephan Baumeckers Martin dreht subtil durch, Wicki Kalaitzis Katrin palavert sich um Kopf und Selbstvertrauen. Einen aber töten die Krieger im Gelee.

Wieder 5.-8.3., 12.3., 20.30 Uhr, Eigenreich, Greifswalder Str. 212/213, Telefon 0162 - 150 92 98

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