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Einstürzende Stollen
Auferstanden aus Ruinen: Völkershausen (Rhön)
Es gab einen Schlag, dann war Schicht! Am 13. März 1989 um 14.03 Uhr blieb die Uhr auf dem Friedensplatz in Völkershausen stehen. Viele im Ort meinten, nachdem sie einen Rundblick über die Schuttberge, die mal Häuser waren, riskiert hatten, das sei für immer so.
Im Kalischacht Merkers hatte man – wie damals mehrmals täglich üblich – eine Sprengung ausgelöst. Doch diesmal klirrten in Völkershausen – nicht wie üblich – nur ein paar Gläser im Schrank. Häuser fielen in sich zusammen, fast 80 Prozent der Ortsbebauung wurden beschädigt, körperlich verletzt wurden nur wenige Einwohner. Die DDR-Oberen versuchten, westdeutsche Verursacher zu finden. Das misslang. Umso mehr beeilte man sich, mit der Kraft der ganzen Republik den Ort in der Rhön rasch wieder aufzubauen. Schöner denn je. Doch es dauerte nur Monate, da brach auch ringsum vieles zusammen, mehr, als man sich im März 1989 vorzustellen vermochte: ein Staat, die Kali-Industrie und dann die kurze Hoffnung vieler auf ein ehrliches Miteinander. Die Uhr vom Friedensplatz hat Bürgermeister Jochem Mayer für den ND-Reporter im letzten Winkel eines ehemaligen LPG-Schweinestalls »ausgegraben«. Noch immer stehen ihre Zeiger auf 14.03 Uhr. Die Zeit kommt nie wieder.
Zeit. Davon haben die Wenigen, die man mittags in Völkershausen trifft, mehr als genug. Selbst wenn man wie Mayer »drei Jobs in einem bewältigt: Hausmeister, Gemeindearbeiter und eben Bürgermeister«. Es ist sein Ort, hier kommt er her, hier zog es ihn wieder hin. Früher war auch er »einer aus dem Kali«, dann wollte die Partei ihn zu Höherem berufen und machte ihn zum SED-Chef in einem Nachbarort, der so katholisch ist, wie er DDR-staatstragend war. Das ließ man ihn nach der Wende spüren. Drei Mal nahm er Anlauf, bewarb sich um den Bürgermeisterposten in seinem Heimatort. Beim dritten Mal bekam er 86 Prozent der Stimmen. In Völkershausen zählen weder alte noch wiedergeborene Parteien im Gemeinderat. Sitz und Stimme haben nur Sport-, Wander-, Gesangsverein und ähnliche »unpolitische« Gemeinschaften. »Es geht gut, wenn der ganze Parteienknatsch draußen bleibt«, sagt Mayer.
Völkershausen gehört zur Verwaltungsgemeinschaft Vacha und in der ist insgesamt vieles im Argen. Die jungen Leute sind der Arbeit nachgezogen ins Hessische oder noch weiter. Kaligruben haben dichtgemacht und das Kabelwerk pfeift, obwohl picobello modernisiert, auf dem letzten Loch. LPG? Denkste. In Völkershausen gibt es noch einen Bauern. Der ist über 70. Die Schule ist geschlossen. Kein Kinderlachen, keine Lieder, keine Anfeuerungsrufe auf dem Sportplatz. Nur eine Kreissäge nervt, ab und zu klappt eine Autotür. Bisweilen melden Kirchenglocken den Fortgang der Zeit.
Die Glocken hatte man per Interflug-Hubschrauber aus der alten zerstörten Kirche geborgen. Ohne die Wende hätten sie wohl nicht so schnell wieder eine so schöne Hülle erhalten. Wichtig war nach dem Gebirgsschlag nicht der Neubau einen Gotteshauses, wichtig waren Wohnungen, wichtig waren Kaufhalle, Sparkasse, Post und Arztpraxen. Daher stellte man, so rasch es ging, am Friedensplatz zwei Pavillons auf. Der Begriff kaschiert die Fremdheit der Plattenbauten im alten Dorf. Doch damals war den Einwohnern die Fürsorge von Partei und Regierung hoch willkommen. Nie und nimmer hätte Völkershausen, dieses Nest am Westrand der DDR, solchen Wohlstandszuwachs bekommen. Die Staatliche Versicherung diskutierte nicht, notierte nur die angegebenen Verluste und zahlte umgehend, was die Bürger begehrten. Damals war die DDR-Kaliindustrie umwelttechnisch schon zu sehr in der europaweiten Umwelt-Kritik, als dass man auch noch Gemurre über einen von ihr verursachten Gebirgsschlag gebrauchen konnte.
Abends im Gasthaus, wenn die alte Wirtin Fotos aus jenen Tagen herauskramt, erfährt man dann auch »einiges über die Menschen«. Die Frau hinterm Tresen meint ihre Nachbarn und wie deren anfängliche Solidarität allzu oft und allzu rasch in Missgunst umgeschlagen ist. Nicht nur, dass die eine oder andere Familie kräftig übertrieben hat, was ihren zerstörten Hausrat betraf, um mehr Entschädigung herauszuschlagen. Nein, auch mancher, der noch vor der Wende in ein neu gebautes Haus einziehen konnten, neidet später Bedachten die dann schon verfügbaren Westfliesen und modernere Armaturen.
ND berichtete 1989, wie NVA-Pioniere einem Paar mit zwei kleinen Kindern ein Haus hochgezogen haben. So, wie die Soldaten es übergaben, steht es noch heute. Unverputzt. Drinnen, so berichten Nachbarn, wohnen nun Leute zur Miete. Die Vermieter, die einst überglücklich den Schlüssel entgegen genommen haben, bauten nach der Wende am Ortsrand ein Heim nach West-Standard.
Mag sein, so sagt der Bürgermeister, man kann nur das wirklich schätzen, was man sich selbst erarbeitet hat. Ob er da an die Mehrzweckhalle unten am Sportplatz denkt, die Bauleute von irgendwo den Völkershausenern hingestellt haben? Gepflegt sieht anders aus. Und eigentlich braucht man sie auch gar nicht, denn oben in der Wandelhalle hat man viel schönere Räume zum Feiern ausgebaut. Und gefeiert wird, wenngleich viel ruhiger als früher. Geburtstage jenseits der 70 und 80 nehmen zu, Gratulationen zu Goldenen oder gar Eisernen Hochzeiten häufen sich. Noch ist viel Platz auf dem Gottesacker hinter der Kirche. Sicher nicht mehr lange.
Die Hoffnung von Völkershausen steht etwas am Rande des Dorfes. Dort befindet sich die vor 20 Jahren errichtete Kinderkombination. Rund 60 Mädchen und Jungen aus dem Ort und dessen näherer Umgebung sind derzeit angemeldet. Völkershausen ist auferstanden aus Ruinen, doch welcher Zukunft zugewandt? Von Zeit zu Zeit kommen noch immer Messtrupps in den Ort. Experten schauen nach, ob die Erde nicht noch einmal Lust verspürt, sich wegen des erlittenen Raubbaus zu rächen.
Nächsten Montag: Interview mit Hans-Otto Bräutigam
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