Zeit der Orangen im zyprischen Norden

Wer die Teilung der Insel überwinden will, muss sich von Eroberermentalität verabschieden

  • Wolfgang Münchow
  • Lesedauer: 7 Min.
Im Norden ist Atatürk – wie in Dipkarpaz – nahezu allgegenwärtig
Im Norden ist Atatürk – wie in Dipkarpaz – nahezu allgegenwärtig

Es schüttet schon den dritten Tag vom Himmel. Die Blätter an den Orangenbäumen haben sich ein kräftigeres Grün gegönnt. Die Früchte leuchten wie kleine Sonnen, und sie schmecken auch so – frisch und voll aufgesogener Glut des vergangenen Sommers. Der Besitzer eines winzigen Coffee-Shops im nordzyprischen Güzel-yurt (griechisch Morphou) freut sich über den Regen, den ersten seit zwei Jahren. Die Tropfen pladdern in dichtem Schleier auf die Fliesen des Vorplatzes der Kirche des Heiligen Agios Mamas, des Schutzpatrons der Steuerzahler – weil er nie welche zahlte, weiß die Legende.

Warum verirrt man sich in diese Gegend? Der Kaffeehausbesitzer kann sich nicht genug wundern. Wegen des Ikonenmuseums im Gotteshaus? Wegen der Orangen? »Ich hab' auch ein paar Bäume, Ehrensache«, sagt er, »auf einem Dönum (ein bisschen mehr als 300 Quadratmeter), nur für die Familie, mehr lohnt sich nicht für mich.«

Was gedeihen soll, braucht viel Pflege

Von Dezember bis März reicht die hohe Zeit der Orangenernte. Viele der Pflücker in der »Türkischen Republik Nordzypern« kommen aus der Türkei, die auch Hauptabnehmer der Früchte ist. Zitrusfrüchte, Kartoffeln, Tabak und Textilien gelangen inzwischen auch in den griechischen Süden der Insel, aber »die EU hat den Import aller Produkte aus Nordzypern verboten«, kommentiert emotionslos ein Gast, der dem Gespräch gefolgt ist. Gewiss ein Problem, nicht nur für die Besitzer der größeren Plantagen. Der finanzielle Ertrag lohnt den Aufwand nämlich kaum mehr. Die Zitrushaine, große wie kleine, brauchen viel Pflege und müssen in den heißen Sommern bewässert werden. Kein leichtes Unterfangen auf einer Insel, auf der Süßwasser ein kostbares Gut ist. Trinkwasser wird mit Tankschiffen aus der Türkei gebracht, neuerdings auch durch eine Pipeline geleitet oder durch Meerwasserentsalzung gewonnen.

Der ausgedehnte Koniferen-Wald in Nordzypern, auf den Hängen des Permasak (Fünffingergebirgszug), fiel schon 1995/96 Bränden zum Opfer, nachdem es fünf Jahre nicht geregnet hatte. Die Wiederaufforstung ist mühsam, aber der Erfolg ist sichtbar. Symbolhaft vielleicht auch für anderes?

Die Republik Zypern im Süden der Insel ist von den Vereinten Nationen anerkannt und seit Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union, die Türkische Republik Nordzypern, entstanden nach der türkischen Invasion im Juli 1974, ist weder das eine noch das andere. Zwar ist die Grenze zwischen Nord und Süd durchlässig geworden, seit 2003 die Übergänge geöffnet wurden. Eine Freihandelsvereinbarung zwischen den Landesteilen existierte schon früher. Und wer als Türke oder Grieche einen Job im jeweils anderen Inselteil hat, kann ihn ausüben. Doch eine Wiedervereinigung scheiterte bisher. 2004 stimmten 75,8 Prozent der Bevölkerung im Süden dagegen. Die Bedingungen schienen ihnen unzumutbar. »Was ist schon eine Hand?«, fragt Hikmet S., Immobilienmakler, gewesener Mukhtar (Bürgermeister) und Polizeisergeant am Kontrollpunkt Ledra-Palace-Hotel in der Inselhauptstadt Lefkosa (Nikosia), »erst zwei Hände machen ein Geräusch!«

Die Pläne der UN seien bisher ebenso fruchtlos geblieben wie der diplomatische Zeigefinger aus Washington, wo man um die Stabilität der NATO-Südflanke fürchtet und deshalb den griechisch-türkischen Streit um erdölhöffige Schelfgebiete und Territorialansprüche in der Ägäis ausgeräumt sehen möchte. Die EU wiederum – mit Scheckbuch, wirtschaftlichen Präferenzen und periodischen Menschenrechtspredigten – bevorzugt bislang ihr Mitglied Griechenland. Derweil wächst die ökonomische Kluft: Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist im Süden etwa um ein Drittel höher als im Norden. Dessen Abhängigkeit von der Türkei wird auf diese Weise vertieft, womit Westeuropa wirtschaftlichen Boykott und Nichtanerkennung begründet. »Eine fatale Logik«, schließt Hikmet.

Danaergeschenke an der Küste

Nordzypern schöpft etwa 70 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts aus Fremdenverkehr und Dienstleistungen. Die Zahl der Touristen übertrifft in der Saison die der Bewohner des Inselstücks (260 000) weit. Die Arbeitslosenquote liegt bei knapp 6 Prozent, vornehmlich aufgefangen durch ein Baufieber, das vor allem die Nordküste ergriffen hat, die mit Hotels, Spielkasinos, Nachtklubs und Privathäusern zugebaut wird. Natur findet sich nur mehr in den Bergen und auf der Halbinsel Karpaz, dem »Horn« Zyperns. Beträchtliche Kapitalinvestitionen aus Großbritannien, Russland, Israel und anderen Ländern zeitigen ihre Folgen. Für die Zukunft ziemlich sicher ein Danaergeschenk, auch wegen vieler architektonischer Geschmacklosigkeiten. Die Produktion von Baumaterial wird jedenfalls kräftig angekurbelt, und auch Hikmet S. hat in seinem Job gut zu tun.

Kurz vor Lefke, einst beliebtes Wochenendziel britischer Kolonialbeamter, steht eines der beiden Denkmale für die türkischen Soldaten, die im Juli 1974 in der Gegend um Girne (Kyrenia) landeten. Ein paar Kilometer weiter endet die Türkische Republik Nordzypern, ein Zwergländle auf 3355 Quadratkilometern. Gegenüber stehen die griechisch-zyprischen Posten. Das Niemandsland wird von UN-Truppen bewacht. Pufferzone auch heute, entlang der »Attila-Linie« von Morphou bis Famagusta. »Grüne Linie« klingt harmloser. »Bevölkerungsaustausch« hört sich auch besser an als »Vertreibung« von wenigstens 50 000 Türken aus dem Süden und 250 000 Griechen aus dem Norden.

Mustafa Kemal ist allgegenwärtig

Das Denkmal Atatürks in Dipkarpaz (Rizokarpazo) auf der Halbinsel im Osten befindet sich noch im Bau. Selbstredend heißt auch sein Standplatz nach dem Gründer der modernen Türkei, ebenso wie in dutzenden anderen Dörfern und Städten Nordzyperns. Nur wird Mustafa Kemal hier betont als Zivilist dargestellt, mit Schirmmütze auf einem sich bäumenden Pferd, nicht etwa als Militär. Denn wer die Teilung der Insel überwinden will, deren Wurzeln tief in die Geschichte reichen, muss sich von Eroberermentalität in Wort und Bild verabschieden. Dass dies möglich ist, zeigt der kleine Ort im äußersten Norden, in dem Griechen und Türken seit Jahrhunderten zusammenleben. Sie haben sich von den Pogromen griechischer und türkischer Milizen der 60er Jahre ebenso wenig beeindrucken lassen wie von Vertreibungswellen oder Umsiedlungsersuchen der UN. Unbeirrt halten sie an ihrer kommunalen Einheit fest und bleiben dabei Griechen und Türken. Die Agios-Synesios-Kirche und die erst 1989 erbaute Moschee stehen friedlich beieinander.

Dipkarpaz ein Modell für die Wiedervereinigung? Zu komplex scheint die Problemlage zwischen den Akteuren in Nord und Süd, den »Garantiemächten« Zyperns, Griechenland und Großbritannien (das seine Militärbasen Akrotiri und Dhekelia zu behalten gedenkt), der Türkei, den USA, der NATO und der EU.

Ein türkisches Sprichwort sagt: Bevor du den Fluss nicht siehst, kremple die Hosen nicht hoch. Um im Bild zu bleiben: Bei aller politischen Bewegung der vergangenen Jahre – noch ist weder im Norden noch im Süden ein Fluss in Sicht.

»Wir kommen weit her, sehr weit her … Wir haben noch immer das Schnurren der Steinschleudern im Ohr«, schrieb der türkische Dichter und Kommunist Nazim Hikmet in seinem Poem »Vorgeschichte«. Die Metapher markiert ein Grundproblem türkischer nationaler Identität, die ihr Selbstbewusstsein aus einem ungebrochenen Verhältnis zu großer Geschichte schöpft, besonders aber aus dem Wirken der von Mustafa Kemal (Atatürk) geführten Bewegung, die der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg den Weg in die Moderne öffnete. Atatürk und der Kemalismus als Staatsdoktrin – darin die strikte Trennung von Religion und Politik – sind in Nordzypern unverzichtbare Bestandteile des Denkens, des politischen Handelns und der Verehrung.

Die Taube auf der Kirchenglocke

Der Islam ist die vorherrschende Religion, nicht aber »Staatsreligion«. Die türkischen Zyprer, wie sie sich selbst stolz in Abgrenzung von den rund 80 000 Neu-Einwanderern aus Anatolien nennen, beschreiben selbst ihr Verhältnis zur Religion mit einem hintersinnigen Scherz: Eine besonders schöne Glocke im Turm der Kirche wird von einer Taube immer wieder mit Kot beschmutzt. Der Priester will sie fangen und lockt sie mit einer Schale Wein. Die Taube trinkt, lässt sich aber nicht fangen und verrichtet ihr Geschäft auf der Glocke. Verzweifelt schreit der Priester: »Wer bist du? Wärst du ein Muslim, würdest du keinen Wein trinken! Wärst du ein Christ, würdest du nicht die Glocke bekleckern! Du musst ein zyprischer Muslim sein!«

Wahrscheinlich ist den Türken Nordzyperns eine gewisse Aufmüpfigkeit eigen, ebenso wie ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, seit sie von den Osmanensultanen nach der Eroberung der Insel 1571 zwangsweise dort angesiedelt wurden. Nomaden waren die meisten damals, aus dem anatolischen Grenzland zu Persien. Unruhige Geister, derer sich die Herren in Istanbul entledigen wollten, weil sie ihre Aufstände gegen die feudale Unterdrückung fürchteten. Sie blieben auch auf Zypern in der Minderheit, bis in die Gegenwart, was immer Folgen für Denken und Handeln gegenüber der Mehrheit hat. Zu leicht spricht man in Europa von »Obstruktionspolitik«. »Wir haben unser Ideal von Unabhängigkeit«, sagt Hikmet S., »und dieses Ideal wird mit Stolz, manchmal aber auch borniert und wild verfolgt. Mir macht das Spaß!«

Am Ledra-Palace-Hotel in Nikosia liegt der bekannteste Übergang über die »Grüne Linie«.
Am Ledra-Palace-Hotel in Nikosia liegt der bekannteste Übergang über die »Grüne Linie«.
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