Verspielter, weltkluger Ton

Der junge Goethe in seinen Briefen: Die ersten Bände der kritischen Edition

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Er ist vierzehn, ein aufgewecktes, selbstbewusstes Bürgersöhnchen, und er schreibt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Orthografie? Nichts als stures, hinderliches Regelwerk. In die »Arkadische Gesellschaft zu Phylandria« will er, eine Mischung aus literarischer Vereinigung und geheimem Tugendbund, denn er fühlt schon, dass er zum Dichten geboren ist. Am 23. Mai 1764 schickt er dem 15-jährigen Ludwig Ysenburg von Bury sein Bewerbungsgesuch, eine munteres, kesses Selbstbildnis: »Ich weiß zwar, daß Ihnen die Zeit bey meinem Geschwätze sehr lang werden wird, doch was hilfts: eimal (!) müßen Sie es erfahren …: Einer meiner haupt Mängel, ist, daß ich etwas / hefftig bin. Sie kennen ja die colerische Temperamente, hingegen vergißt niemand leichter eine Beleidigung als ich. Ferner bin ich sehr an das Befehlen gewohnt, doch wo ich nichts zu sagen habe, da kann ich es bleiben laßen.«

Genützt hat ihm die Aufrichtigkeit wenig. Auch ein zweiter Anlauf schlägt fehl. Bury findet Goethe einfach nicht tugendhaft genug. Er sagt es ihm aber nicht, sondern wartet, bis sich der Bewerber nicht mehr rührt und die Sache im Sande verläuft.

Das Leseabenteuer beginnt mit dem ersten der drei Schreiben, die sich aus der Frankfurter Zeit erhalten haben. Es eröffnet, wie alle Texte in originaler Schreibweise gedruckt, die neue historisch-kritische Edition sämtlicher Briefe, die zwischen Mai 1764 und März 1832 geschrieben wurden.

Die Goethe-Philologie, mächtig in Fahrt gekommen, macht mit einem weiteren Mammutprojekt von sich reden. Müde, gar tatenlos war sie ja nie. Das ganze 20. Jahrhundert hindurch sorgte sie für grundlegende, spannende, manchmal überraschende Editionen. Ihre große Zeit hatte sie gleich nach 1885, als endlich der Nachlass des Dichters zugänglich war und Weimar ein Ort großer Entdeckungen wurde. Die wichtigste, Epoche machende Leistung, die 143 Bände der Weimarer oder Sophienausgabe - noch immer so umfassend und unverzichtbar wie keine andere Edition, gestartet 1887 - lag 1919 komplett vor. Sie offenbarte ihre Unzulänglichkeiten und Lücken, je älter sie wurde, so gingen schon vor fünfzig Jahren Weimarer Wissenschaftler unter Helmut Holtzhauer daran, sie durch eine moderne Ausgabe zu ersetzen.

Realisiert wurde seit 1947 allerdings nur die Leopoldina, die Sammlung der naturwissenschaftlichen Schriften. Die Akademie-Ausgabe, die das literarische Werk neu präsentieren sollte, 1952 eröffnet, wurde nach einigen Bänden 1966 aufgegeben. Die Arbeit an der Neuedition der Tagebücher und Briefe musste nach gravierenden Auseinandersetzungen mit Berliner Germanisten 1974 eingestellt werden. Später konnten Goethe-Forscher und -Liebhaber schon froh sein, wenn sie die kostbare und seltene Sophienausgabe, dieses staunenswerte Denkmal editorischen Fleißes, im Reprint erwerben konnten, verlegt 1987 in schöner Dünndruckbroschur bei dtv in München und 1999 in gediegener Halblederausstattung im Weimarer Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, wo ja auch die originale Ausgabe herauskam. (An dem Haus befindet sich heute eine Tafel, die an die verlegerische Großtat erinnert.)

Was vor Jahrzehnten über Vorarbeiten nicht hinauskam, ist jetzt, ermöglicht durch die Wiedervereinigung, auf dem besten Weg, realisiert zu werden. Zwei weitere Abteilungen der Sophienausgabe erhalten im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar ihr modernes Pendant. Seit 1999 schon erscheinen bei Metzler in Stuttgart, von Jochen Golz herausgegeben, die kompletten Tagebücher Goethes in schöner, anspruchsvoller und üppig erläuterter Edition. Ganz neu ist Band 4 mit Aufzeichnungen der Jahre 1809 bis 1812, der die Lücke zwischen den schon vorliegenden Bänden 3 und 5 schließt, wieder eine rühmenswerte Leistung, die vor allem durch den peniblen, fast tausendseitigen Kommentar besticht. Zu diesen dunkelblauen Büchern gesellen sich, in weinrotes Leinen gekleidet und mit dem Goethe-Porträt von Georg Melchior Kraus auf dem Umschlag, nun die Briefe der Jugendjahre, in zwei Bänden und ausgiebig erläutert.

Hier sind sie, Zeugnisse der Freundschaft und Liebe, des Fiebers und Übermuts, mal himmelhochjauchzend, mal tief betrübt, frisch und faszinierend noch immer, Wortströme, die alle Dämme brechen, rasant, atemlos, stürmisch, eine wunderbare Gelegenheit, mit Goethe Bekanntschaft zu schließen. Lies diese Briefe, riet Hugo von Hofmannsthal 1904 einem Schiffsleutnant, vergiss, wer sie schrieb, »laß den verspielten, den leidenschaftlichen und den weltklugen Ton seiner Rede in dein Ohr fallen wie die Sätze eines neuen Freundes«. Er übertrieb nicht.

»Mägden», schreibt Goethe Ende 1765 an seine Schwester Cornelia. »Ich habe jetzo Lust mich mit dir zu unterreden; und eben diese Lust bewegt mich an dich zu schreiben. Sey stoltz darauf Schwester, daß ich dir ein Stück der Zeit schencke die ich so nohtwendig brauche.« Und dann legt er los und versorgt sie, unendlich überlegen, mit seinen Weisheiten und Lebenswinken. Später, wenn er mit Freund Behrisch korrespondiert, geht's um Mädchen und Herzweh, Eroberungen und Eifersucht, das Gefühl reißt ihn immerzu fort, er triumphiert, er bebt, er feiert sein Glück, er empört sich und weiß bei alledem nicht recht, was aus ihm werden soll, Jurist oder doch lieber Poet. Zuletzt, nach der fluchtartigen Reise in die Schweiz und der vorzeitigen Rückkehr, schreibt er an Merck, er sei »wieder scheißig gestrandet, und möchte mir tausend Ohrfeigen geben, daß ich nicht zum Teufel gieng, da ich flott war«.

Ganz verrückt wird es, wenn er dann »Gustgen« kennenlernt, Augusta Louise Gräfin zu Stolberg, die er nie zu Gesicht bekommt, die aber gleich die umschwärmte Vertraute wird, eine Geliebte in der Ferne, der er in hitzigen Sätzen seine Qualen gesteht, den Überdruss, sein Leiden an Frankfurt, die inneren Kämpfe, weil er nicht weiß, wie es mit der Verlobten Lili Schönemann weitergehen soll. Nie wieder hat Goethe so vorbehaltlos, so breit und emphatisch seine seelische Befindlichkeit offenbart.

Die Ausgabe des Berliner Akademie-Verlages, herausgegeben von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, soll einmal 36 Bände umfassen und wird im Text über alles Bisherige hinausgehen. Immerhin wurden seit 1990 (als Paul Raabe den dtv-Reprint der Sophienausgabe mit den Schreiben ergänzte, die nach 1919 auftauchten) etwa 500 weitere Briefe entdeckt. Erst im letzten Herbst hat das Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv seinen Bestand um 33 Briefe an Schwiegertochter Ottilie erweitern können, die aus privater Hand auf einer Berliner Auktion angeboten wurden. All diese Funde wird die Edition zugänglich machen.

Ihre Besonderheit ist, veröffentlicht in separaten Bänden, der Kommentar. Das gab es in dieser Vollständigkeit, diesem Umfang noch nie. Hier ist wirklich alles ausgebreitet, was zum Verständnis der Briefe nötig ist. Neben dem obligatorischen Stellenkommentar mit Wort- und Sacherklärungen, mit Auskünften über biografische, politische und soziale Zusammenhänge gibt es umfassende Anmerkungen zu den über 1400 Personen, mit denen Goethe korrespondierte, und natürlich werden in den ersten beiden Bänden die Briefe übersetzt, die der junge Mann an seine Schwester in französischer Sprache schrieb.

Der Anfang ist gemacht. Das Ende freilich liegt in weiter Ferne. Der vorläufige Editionsplan reicht bis 2016. Da soll Band 10 erscheinen. Alles andere steht noch in den Sternen.

Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Akademie Verlag. Band 1/I: Text. 279 S., Band 1/II: Kommentar. 551 S., 158 EUR.

Band 2/I: Text. 295 S., Band 2/II: Kommentar. 643 S., 168 EUR.

Tagebücher 1809 - 1812. Historisch-kritische Ausgabe. Verlag J. B. Metzler, Band IV/1: Text/ Register, Band IV/2: Kommentar, zus. 1634 Seiten, 189,90 EUR.

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