Filmfest GoEast: Solidarität und ihr Gegenteil

Das Filmfestival GoEast widmet sich in diesem Jahr der queeren Community

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.
Szene aus »Crossing«, dem Eröffnungsfilm des Festivals.
Szene aus »Crossing«, dem Eröffnungsfilm des Festivals.

Auf dem 24. GoEast-Filmfestival in Wiesbaden, das an diesem Dienstag zu Ende geht, wurden auch in diesem Jahr wieder zahlreiche Filme aus Mittel- und Osteuropa sowie aus Zentralasien und dem Kaukasus gezeigt. Das georgisch-türkische Roadmovie »Crossing« eröffnete das Festival – ein ungewöhnlicher und ergreifender Film von Regisseur Levan Akin, dessen schwule Liebesgeschichte »Als wir tanzten« international gefeiert wurde.

In den Randbezirken von Batumi sucht die pensionierte Lehrerin Lia (Mzia Arabuli) nach ihrer Nichte Tekla, einer trans Frau, die von ihrem Vater aus dem Haus gejagt wurde. Der junge Mann Achi (Lucas Kankava) hat nur nach einer Gelegenheit gesucht, dem eintönigen Leben im viel zu engen Elternhaus zu entkommen. Er gibt an zu wissen, dass Tekla nach Istanbul gegangen ist. Kurze Zeit später sitzen er und Lia im heimlich von Achis Vater »geborgten« Auto und fahren mit laut aufgedrehter Rapmusik Richtung Grenze.

In Istanbul stellt Achi den Kontakt zur Trans-Community her und übersetzt die Fragen von Lia, der deutlich anzusehen ist, wie schockiert sie ist, unter Sexarbeiter*innen nach ihrer Nichte zu suchen. Lia begreift nicht, warum Tekla sich für dieses Leben entschieden hat, gehasst und diskriminiert, mit Sexarbeit als einziger Einkunftsmöglichkeit.

»Crossing« zeigt die Härte von Diskriminierung, Armut und Transfeindlichkeit, aber stellt trans Personen und andere Marginalisierte zum Glück nicht als Opfer dar, sondern als selbstermächtigt und Teil einer starken Community, in der man sich gegenseitig unterstützt. »Crossing« erzählt von Zusammenhalt unter widrigsten Umständen und der Überwindung von Vorurteilen, ohne eine heile Welt zu behaupten.

Die Wahl des Eröffnungsfilms verweist auf einen der Schwerpunkte des diesjährigen Festivals: Queere Identitäten und queere Kunst in und aus Osteuropa. Neben mehreren Kurzfilmprogrammen war auch eine Auswahl sowjetischer und jugoslawischer Filme mit mehr oder weniger subtiler queerer Thematik zu sehen, darunter die ukrainische Produktion »Ein strenger Jüngling« aus dem Jahr 1936. Der Film, der als nicht mit dem sozialistischen Realismus konform verboten wurde, thematisiert offen freie (heterosexuelle) Liebe jenseits der Ehe und überrascht mit einer homoerotischen Bildsprache.

Ein dreitägiges Symposium zum Thema »Die ›anderen‹ Queers« begleitete das Festival. Mit den »anderen« sind jene Queers gemeint, die bisher (in Westeuropa) wenig wahrgenommen wurden. In mehreren Diskussionsrunden sprachen Künstler*innen und Aktivist*innen aus verschiedenen Ländern über ihre Erfahrungen: In queerfeindlich geprägten Ländern ist queere (Film-)Kunst stark von finanzieller Förderung aus Westeuropa abhängig. Doch gefördert werde meist nur das, was in ein bestimmtes Narrativ passt. Von postjugoslawischer Kunst werde zum Beispiel erwartet, dass sie das Trauma der Kriege in den 90er Jahren behandelt, und ukrainische Künstler*innen sollen die russische Invasion thematisieren. Andere Perspektiven und Kunst aus dem Underground bleiben so meist unsichtbar. Umso wichtiger sei es, sichere Räume für Kunst zu schaffen, die bewusst gesellschaftliche Normen und Erwartungen sprengt.

Im Wettbewerb des Festivals war eine große Bandbreite an Perspektiven vertreten. Gezeigt wurden unter anderem der kasachische Coming-of-Age-Film »Bauryna Salu«, das ukrainische Sozialdrama »Stepne«, der Dokumentarfilm »Fairy Garden« aus Ungarn, der Solidarität unter Wohnsitzlosen behandelt, und die Satire »Processes« aus Belarus.

Großen Eindruck hinterließ das Drama »Plague« aus der sibirischen Republik Sacha/Jakutien. Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat sich ein lebendiges jakutisches Kino mit zahlreichen Filmen entwickelt, die ohne staatliche Zuschüsse gedreht werden, meist in jakutischer Sprache statt auf Russisch. Dmitrii Davydov, Regisseur von »Plague«, war auf keiner Filmschule und dreht Filme neben seiner Arbeit als Lehrer. Doch »Plague« wirkt mitnichten wie eine Amateurproduktion, sondern ist ein eindrückliches Kunstwerk, das es locker mit den Größen des internationalen Kinos aufnehmen kann.

Die titelgebende »Pest«, die die Protagonisten des Films (es sind ausschließlich Männer) infiziert hat, ist die Gewalt. Das Drama spielt in einem kleinen, trostlosen Dorf mitten im Nirgendwo. Die Verhältnisse sind ärmlich, die Arbeit hart. Und die Dorfbewohner machen sich das Leben gegenseitig noch schwerer. Der zurückhaltende Ivan (Georgy Bessonov) wird regelmäßig von seinen Nachbarn schikaniert und ausgenutzt. Sein Sohn Taras (Erhan Sleptsov) schämt sich für den Vater. Er will nicht zu den Verlierern gehören, denn er hat bereits gelernt: In dieser Gesellschaft ist Stärke das Ideal, man muss »männlich« sein und andere unterwerfen.

Taras beginnt immer mehr Zeit mit dem Nachbarn Vlad (Evgeniy Nikolaev) zu verbringen. Vlad hat eine Vorliebe dafür, andere zu schikanieren und seinem eigenen Sohn die Stärke einzuprügeln. Taras gefällt es, wie Vlad anderen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben. In konzentrierten, realistischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigt der Film eindrücklich die Normalisierung von Gewalt in der russischen Gesellschaft.

Diese Welt ohne Zusammenhalt und Empathie, die in »Plague« gezeigt wird, scheint das genaue Gegenteil der Solidarität und Gemeinschaft der Istanbuler Trans-Community aus dem Eröffnungsfilm »Crossing« zu sein. Diese beiden Extreme zeigen die große Bandbreite nicht nur des GoEast-Festivalprogramms, sondern überhaupt des Kinos aus dem sogenannten »Osten«.

Vom 1. bis 8. Mai können einzelne Filme des Festivals für 7 € online gestreamt werden unter: http://online.filmfestival-goeast.de/de/home

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