Der Knast der alten Männer
In Singen steht Europas einziges Gefängnis für Senioren-Straftäter
Fährt man in Singen die Erzbergerstraße stadtauswärts, dann erscheint diese ebenso unspektakulär wie die ganze Industriestadt 30 Kilometer nordwestlich von Konstanz: Läden, Imbissbuden, Bürgerhäuser. Dann erscheint rechter Hand die Hausnummer 32 und man merkt an dem Stacheldraht auf der Mauer und an den Fenstergittern, dass es sich um ein Gefängnis handelt.
»Justizvollzugsanstalt Konstanz, Außenstelle Singen« steht auf dem Schild am Eingang unter dem Wappen Baden-Württembergs. Der Wachmann hinter dem Schutzglas fordert den Besucher auf, Ausweis und Handy abzugeben, erst dann öffnet sich die Sicherheitstür. Drinnen wartet in einem nüchternen Büroraum Ellen Albeck. Die 35-Jährige ist Direktorin der Justizvollzugsanstalt Konstanz; über die Außenstelle Singen sagt sie: »Wir sind in Europa das einzige Gefängnis für ältere Gefangene.« Die zierlich wirkende Juristin ist die jüngste Direktorin einer Justizvollzugsanstalt in Baden-Württemberg. Neben ihr sitzt in grüner Uniform Dienstleiter Thomas Maus. Der 46-Jährige hat die Zahlen zur Hand: 50 Häftlinge sitzen derzeit ein, alle über 62 Jahre alt. Der älteste Insasse ist 80.
»Gelingendes Weiteraltern«
»Welchen Sinn hat ein spezielles Gefängnis für Senioren?«, frage ich die junge Direktorin bei einem Rundgang. »In den großen Anstalten werden die Älteren von den Jüngeren an den Rand gedrängt«, sagt Ellen Albeck. »Senioren kommen mit den Anderen oft nicht mehr mit, etwa beim Sport. Sie haben andere Bedürfnisse und das Resozialisierungsziel ist ein anderes.« 70-Jährige brauchen keine Berufsausbildung mehr, es geht um die Vermeidung von Rückfällen und um ein »gelingendes Weiteraltern« nach der Entlassung.
Wir kommen an der Küche vorbei. An der gekachelten Wand hängt der Speiseplan: Hühnerfrikassee mit Reis und Erbsen gibt es heute Mittag, abends dann Brot und Käse. Oberaufsicht in der Küche hat Klaus Bautz, ein kräftiger Mann mit Kochmütze und Schürze, der gerade Wurstplatten aus dem Kühlraum holt. Der 53-jährige Vollzugsbeamte hat sich bei einem Feldkochlehrgang für die Gefängnisküche qualifiziert.
Schließlich stehen wir im Zellentrakt. Die Zelle von Walter Hauser (Name von der Redaktion geändert) ist gerade mal acht Quadratmeter groß. Links das Bett mit dem blauweiß karierten Überzug und der Schrank, rechts die Kloschüssel, das Waschbecken und der kleine Tisch. Darauf stehen einige Röhrchen mit Vitaminpillen, etliche Flaschen Mineralwasser und ein paar Dosen mit Erdnüssen. Abends um 22 Uhr fällt hinter Hauser die schwere Eisentür aus den 40er Jahren ins Schloss, dann ist der 68-Jährige mit sich allein. Zu fünfeinhalb Jahren Haft wurde er verurteilt, wegen Kreditbetruges, zwei Jahre hat er noch abzusitzen. Die ersten Haftjahre war Hauser im »normalen« Gefängnis in Freiburg, jetzt ist er froh, in Singen zu sein: »Allein die Ruhe, das ist schon ein großer Vorteil.«
Das Spezielle an der JVA Singen liegt nicht im Baulichen. »Wir sind hier keine behindertengerechte Anstalt«, sagt die Direktorin. Auch die 70-Jährigen müssen Treppen steigen, es gibt keine Fahrstühle. »Das Besondere besteht vor allem im Konzept eines nach innen weitgehend offenen Vollzugs. Das bedeutet, dass die Zellen tagsüber offen sind und die Häftlinge sich innerhalb eines bestimmten Bereiches frei bewegen können«, erklärt Frau Albeck. Trotzdem ist der Tagesablauf genau geregelt. Um sieben Uhr morgens schließen die Vollzugsbeamten die Zellen auf, es gibt das Frühstück. Dann wird bis 15.30 Uhr gearbeitet, mit Unterbrechung durch die einstündige Mittagspause. Ab 16 Uhr ist Freizeit, es gibt ein Sportangebot und Gesprächsgruppen. Unterm Dach befindet sich ein Raum mit Sportgeräten, eine Spende von Firmen. »Man muss etwas tun, damit man fit bleibt«, sagt einer der Häftlinge, die in die Pedale treten.
Im Mittelpunkt des Gefängnisalltags steht freilich die Beschäftigung. Walter Hauser arbeitet in der Küche. Neben den Arbeiten im Haus sind die Senioren-Häftlinge auch für Fremdfirmen tätig. Wir betreten eine weitläufige Halle mit Neonlampen an der Decke. Braune Kartons stapeln sich auf Holzpaletten, dazwischen ein paar Maschinen. Leichtes Summen und Rascheln ist zu hören.
Hier arbeitet ein gutes Dutzend Häftlinge. Martin zum Beispiel sortiert und verpackt Plastikdübel und Schrauben. Seine Oberarm-Muskeln sind deutlich sichtbar, ebenso die Tätowierung. Der wachhabende Beamte in der Halle erklärt: »Der Stundenlohn beträgt 1,50 Euro. Wer voll arbeitet, kommt auf rund 200 Euro im Monat.« Wer allerdings die gesetzliche Altersgrenze überschritten hat, braucht nicht zu arbeiten. Dann muss er allerdings 300 Euro von seiner Rente abliefern; für den eigenen Bedarf dürfen 220 Euro von der Rente ausgegeben werden, ergänzt die Direktorin. Die meisten Gefängnisrentner arbeiten gerne, um den Tag auszufüllen.
Wir betreten den kleinen Hof der Vollzugsanstalt. Hier gibt es ein paar Sitzbänke, einen Teich mit Goldfischen, vor den Gitterfenstern eine bunte Blumenrabatte. Einige Insassen schlendern herum und schnappen Luft. Aber die Idylle trügt. »Wer hier einsitzt«, sagt die Direktorin, »ist zu mindestens 15 Monaten verurteilt.« Es handelt sich also nicht um Kleinkriminelle, die durchschnittliche Haftdauer beträgt immerhin fünf Jahre. Ein Drittel der Insassen ist wegen Gewaltdelikten verurteilt. Ein weiteres Drittel sitzt wegen Sexualdelikten, das letzte Drittel wegen Betrugs im großen Stil. Gemeinsam ist vielen Häftlingen, dass sie Erststraftäter sind und vorher ein unbescholtenes Leben geführt haben. »Erhöhte Haftempfindlichkeit«, heißt das im Fachjargon.
Dazu gehört, dass viele Senioren-Häftlinge nach der Verurteilung einen Partner alleine zurücklassen müssen, mit dem sie lange Zeit gelebt haben. »Die Trennung war brutal«, sagt Walter Hauser, auf den seine Ehefrau wartet. Pro Monat sind sechs Besuchsstunden erlaubt – weit mehr als in anderen Haftanstalten. Zum Konzept dieses Gefängnisses gehört es, den Kontakt zu den Angehörigen draußen nicht abreißen zu lassen.
In dem einsehbaren Kontakt-raum spricht gerade eine Frau mit ihrem inhaftierten Ehemann, sie hat jede Menge Plastiktüten dabei. »Beim Regelbesuch können die Gefangenen Süßwaren und Erfrischungsgetränke sowie Tabakwaren im Gesamtwert von zehn Euro erhalten. Die angebotenen Genussmittel müssen im Beisein eines Bediensteten in der Anstalt erworben werden«, heißt es dazu im Infoblatt für die Besuche von Angehörigen. Da in den Besuchsräumen das Rauchen nicht gestattet ist, erhalten die Gefangenen vom Bediensteten die aus dem Automat gezogenen Zigaretten erst nach dem Besuch.
Auch der Inhalt von Paketen, etwa zu Weihnachten, ist genau vorgeschrieben: Kuchen, Gebäck, Süßigkeiten, Schokolade, Zucker, Kakao, lösliche Kakaogetränkepulver, Traubenzucker, Milchpulver, Honig und Marmelade sind erlaubt; Fleischwaren und Käse nur, wenn sie nicht verderblich sind. Kaffee, Tee, Zigaretten, Zigarren und Tabak werden nur in geringen Mengen zugelassen.
Zu den Schwierigkeiten hinter den Mauern von Singen gehört auch, dass es hier dem Ende des Lebens entgegengeht. Manchmal stirbt ein Häftling während der Haft. »Die Perspektive auf das Lebensende hin, das ist ein großes psychisches Problem«, weiß Direktorin Albeck. Beistand in dieser Situation geben ein evangelischer und ein katholischer Seelsorger, die in einem Gruppenraum Gottesdienste abhalten. Zum Konzept des Senioren-Gefängnisses gehört auch, dass die Insassen einander unterstützen können, wenn sie Hilfe brauchen.
Länger fit – auch für Straftaten
Noch ist die JVA Singen die einzige Anstalt für alte Häftlinge. Andere Gefängnisse haben spezielle Seniorenabteilungen. Ellen Albeck ist vom Konzept der Singener Anstalt überzeugt. Sie rechnet aufgrund der demografischen Entwicklung mit einem steigenden Bedarf an Senioren-Haftplätzen. Denn wenn die Gruppe der Alten wächst, wird auch die Zahl der alten Straftäter größer. Und die Senioren bleiben länger fit und sind »damit länger in der Lage, Straftaten zu begehen«, so Albeck. So wie ein kürzlich vom Münchner Landgericht zu sechs Jahren Haft verurteilter ehemaliger städtischer Beamter. Der Pensionist hatte wegen Geldsorgen mit einer Waffe gleich drei Drogeriemärkte überfallen. Sein Alter: 72.
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