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»Menschliche Lawine« in Sri Lanka

Flüchtlingsströme im Nordosten des Landes / 100 000 Zivilisten weiter im Frontgebiet eingekesselt

  • Daniel Kestenholz, Bangkok
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit Monaten verspricht Sri Lankas Regierung das Ende des Bürgerkriegs. Mit dem Fall des letzten größeren Verteidigungsrings der Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) scheint das Ende der Rebellen in greifbarer Nähe.

Der Blutzoll für den Sieg ist dramatisch: Laut Rebellenkreisen sind seit Montag über 1000 Zivilisten im Kampfgeschehen ums Leben gekommen. Die im September begonnene Schlussoffensive der Armee hat die LTTE in einen auf wenige Quadratkilometer geschrumpften Küstenstreifen im Nordosten des Landes zurückgedrängt. Ein am Montag erlassenes 24-Stunden-Ultimatum Colombos an die Rebellen, sich bedingungslos zu ergeben, lief am Dienstagmittag Ortszeit ab. Die Rebellen ignorierten die Frist, womit die Angst vor großen Opfern unter der Zivilbevölkerung anstieg. Zehntausende Männer, Frauen und Kinder bleiben eingeschlossen.

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich tief besorgt. Doch als habe sich die Weltgemeinschaft damit abgefunden, dass das letzte Kapitel in Sri Lankas Drama begann, waren keine Aufrufe mehr zu einem Waffenstillstand zu vernehmen. Selbst die Rebellen scheinen ihre ausweglose Lage erkannt zu haben: Am Montag erklärten sie ihre Bereitschaft zu einem »bedingungslosen Waffenstillstand«, wie dieser jüngst von den USA gefordert wurde. Die Regierung bekräftigte, die Operationen würden bis zur Kapitulation der Rebellen oder bis zur Auslöschung andauern.

Die angekündigte Schlussoffensive nach Ablauf des Ultimatums rollte zunächst noch nicht an. Doch bereits am Montag wurden aus dem Nordzipfel des aus Lagunen, Kokoshainen und Stränden bestehenden Frontgebiets Kämpfe gemeldet. Nach Militärkreisen würden »chirurgische Einzeloperationen« für die »größte Geiselrettungsaktion der Welt« durchgeführt, um die weiter bis zu 100 000 im Frontgebiet eingekesselten Zivilisten zu »befreien«.

Doch was Colombo als Befreiungsaktion bezeichnet, nennt Pierre Krähenbühl vom Internationalen Roten Kreuz ein Desaster: »In einem äußerst kleinen Gebiet, das von dorthin geflohenen Zivilpersonen überfüllt ist, wird heftig gekämpft. Die Lage ist nichts weniger als eine Katastrophe«, so Krähenbühl. »Die Kämpfe haben Hunderte von Zivilpersonen getötet oder verwundet.«

Dennoch soll am Montag über 30 000 eingeschlossenen Zivilisten die Flucht gelungen sein. Einem Armeesprecher zufolge hätten am Dienstag weitere 40.000 Auffanglager der Regierung erreicht.

Wie groß die Zahlen an Eingeschlossenen und Geflüchteten tatsächlich sind, ist unmöglich zu überprüfen. Journalisten sind großräumig aus dem Kriegsgebiet verbannt und die Regierung wie auch Tigerrebellen sind bekannt für das propagandistische Aufblähen der gegnerischen Opferzahlen und eigenen Leistungen auf dem Schlachtfeld.

Doch das menschliche Elend lässt sich nicht wegzensieren: Von Tamilengruppen veröffentlichtes Filmmaterial zeigte erbärmliche »Notkliniken«, wo selbst Schwerverletzte entsetzliche Zustände zu ertragen haben. Ein von einer Drohne der Luftwaffe gefilmtes Video zeigte eine verschwommene, langsam ziehende Menschenkolonnen auf einem offenen Stück Land. Einige schienen große Gepäckstücke zu schleppen. Zeitungen in Colombo druckten in ihren Dienstagausgaben ganze Seiten mit Bildern der »menschlichen Lawine«, während die Tigerrebellen schwere Vorwürfe gegen die Regierungstaktik erhoben: Luft- und Bodentruppen würden wahllos die Zivilbevölkerung massakrieren. Nach TamilNet.com, einer Website der Rebellen, hätten Raketenangriffe und Geschützfeuer der Regierungstruppen über 1000 Menschen getötet. Die Armee setze auch Streubomben ein, so TamilNet, und ein tamilischer Korrespondent berichtete, im Kampfgebiet lägen »noch immer Hunderte von Leichen und Verletzten«.

Dabei scheint erwiesen, dass die für ihre Brutalität bekannten Rebellen selbst Frauen und Kinder als menschliche Schutzschilde und Kanonenfutter vorschieben. Nachrichtenagenturen zitieren aus dem Kriegsgürtel geflohene Tamilen, nach denen die Rebellen die Zivilbevölkerung an der Flucht hindern würden. »Sie drohen jeden zu erschießen«, so ein Entkommener, »der fliehen will.«

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