Tiefe Narben in Britanniens Seele
Britische Sozialstatistik stellt der Labour-Regierung ein Armutszeugnis aus
Es geht um die jährliche Sozialstatistik des Ministeriums für Arbeit und Renten. Sie stellt der Regierung Brown und der späten Phase seines Amtsvorgängers Tony Blair ein beschämendes Zeugnis aus. Und sie liest sich noch trauriger, wenn man den Anspruch der Labour Party (ähnlich wie der SPD) berücksichtigt, Sachwalter gerade der kleinen Leute zu sein.
Die jüngsten Daten zeigen jedoch, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Großbritannien zu keiner Zeit seit Beginn derartiger Untersuchungen vor fast 50 Jahren tiefer war als unter der heutigen Regierung. Namentlich seit der vorläufig letzten Unterhauswahl 2005, die Labour damals noch unter Blair und mit Brown als Finanzminister gewann, trat eine Entwicklung ein, in der die Einkünfte des sozial schwächsten Bevölkerungsfünftels auch absolut sanken, während das der reichsten Briten »eine zuckersüße Periode« (»The Guardian«) erlebte. Dabei sind in der neuen Untersuchung die schweren Verwerfungen seit letztem Herbst noch nicht erfasst.
Den Daten des Ministeriums zufolge vergrößerte sich der Abstand zwischen Arm und Reich 2007/08 zum dritten Mal in Folge. Seit Blairs Wahlsieg 2005 schrumpfte das Haushaltseinkommen der ärmsten zehn Prozent der Briten unter Anrechnung der Inflationsrate absolut um wöchentlich 9 Pfund auf 147 Pfund (etwa 160 Euro). Für die reichsten zehn Prozent wuchs es im statistischen Mittel um wöchentlich 45 auf 1033 Pfund. Auch die zweitärmsten zehn Prozent der Haushalte verzeichneten 2007/08 einen absoluten Rückgang im Vergleich zu 2005.
Zwar erbte Labour bei Amtsantritt des ersten Kabinetts Blair im Jahre 1997 von den Konservativen (Torys) eine Gesellschaft, die im Vergleich mit allen entwickelten kapitalistischen Staaten am tiefsten gespalten war. Doch im Rückblick kehrte Labour den Trend seither nicht etwa um, sondern ließ die Vertiefung des Grabens zu. »Die Ungleichheit im Lande«, schrieb der »Guardian«, »hat ein Maß erreicht, wie es unter (den konservativen Premierministern) Macmillan, Heath, Thatcher oder Major nicht bestand.« Während das Unternehmertum von immer mehr Auflagen befreit wurde, sank zugleich der gewerkschaftliche Organisationsgrad, und das trug dazu bei, »dass für jene an der Spitze allein der Himmel die Grenze wurde, während es für die am Fuß der Pyramide einen anhaltenden Druck zu sinkenden Löhnen gab«. Besonders besorgniserregend liest sich in der jüngsten Statistik der Trend der Kinderarmut in Britannien. Tony Blair hatte vor genau zehn Jahren das ehrgeizige Ziel verkündet, die Zahl der armen Kinder – damals auf 3,4 Millionen beziffert – bis 2010 zu halbieren und bis 2020 auf null zu senken. Die neueste Statistik ebenso wie die Erklärungen verschiedener Regierungsmitglieder verdeutlichen, dass dieses Ziel nach anfänglicher Annäherung weiter denn je in die Ferne rückt. Die Schattenministerin für Arbeit und Renten, die Tory-Politikerin Theresa May, erklärte: »Gordon Browns Versprechen, die Kinderarmut bis 2010 zu halbieren, ist nur eines von vielen Versprechen, die jetzt in Scherben liegen. Es ist eine Tragödie, dass die Zahl der Kinder in der Armutsfalle weiter wächst.« Colette Marshall, Direktorin des britischen Zweigs der Hilfsorganisation »Save the Children«, sagte mit Blick auf die Sozialstatistik: »Im Jahre 2001 nannte Gordon Brown die Kinderarmut eine ›tiefe Narbe in Britan-niens Seele‹. Heute wissen wir, dass es noch sehr, sehr lange dauern wird, bis sie heilen kann.«
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