CDU will Hoheit über das Geschichtsbild

Sachsen-Anhalts Linksfraktionschef Wulf Gallert über »Unrechtsstaats«-Debatte und linken »Hühnerhof«

  • Lesedauer: 7 Min.
Wulf Gallert
Wulf Gallert

ND: Im Magdeburger Landtag verwandelte sich jüngst eine Debatte über 60 Jahre Grundgesetz zum Schlagabtausch über den vermeintlichen Unrechtsstaat DDR. Wie hängt beides zusammen?
Gallert: Die CDU will einen Verfassungspatriotismus bewirken, indem sie ein möglichst abschreckendes und negatives DDR-Bild zeichnet. Um diese pädagogische Wirkung zu erzielen, muss die DDR zur Inkarnation des Schreckens gemacht werden. Das funktioniert aber nicht. Die Bundesrepublik ist an vielen Punkten eben nicht das genaue Gegenteil der DDR, und diese ist in der Erinnerung der Menschen auch nicht ausschließlich eine negative Kontrastschablone. Vielmehr wird sie um so positiver beurteilt, je negativer viele Menschen ihre aktuelle Situation einschätzen.

Stört Sie das?
Damit wird zum einen ignoriert, dass die DDR an ihren eigenen Systemfehlern zugrunde ging und die Bundesrepublik in vielen, wenn auch längst nicht allen Punkten ein zivilisatorischer Fortschritt ist. Außerdem hat die Strategie der CDU zur Folge, dass die Menschen an einer Stelle sagen, was sie über die DDR denken, und an anderer Stelle, was sie denken sollen. Das ist eine Art der Kommunikation, die in der DDR sehr ausgeprägt war und die ich nicht zurückhaben möchte.

Was bezweckt die CDU?
Sie braucht Feindbilder und will der LINKEN Schuld aufbürden, um sie bekämpfen zu können. Es geht ihr weniger um die Geschichte als um politische Machtinstrumente, mit denen sie uns isolieren zu können meint. Weit über die CDU hinaus besteht aber die ernsthafte Angst, dass die jetzige Gesellschaft gerade angesichts der Krise grundlegend in Frage gestellt wird, und die DDR als Alternative attraktiver wird, wenn man sie nicht pauschal verurteilt.

Ist die Angst unberechtigt?
Selbst diejenigen, die in Umfragen sagen, sie fanden die DDR besser, wünschen deren gesellschaftliche Verhältnisse zum übergroßen Teil nicht zurück. Die Leute vergleichen aber und kommen zum Schluss: Es ging damals schief, und jetzt geht es wieder schief. Das Problem sind ja nicht die vielen Unterschiede zwischen DDR und Bundesrepublik, sondern die vielen Parallelen. Darüber kann man aber nicht mehr reden, wenn die DDR nur schwarz gemalt wird.

Kommt solche Differenzierung bei Wählern an?
Ich glaube, man kann vernünftig darüber reden, dass die DDR der Versuch sozialer Gerechtigkeit und einer antifaschistischen Alternative war, in dem allerdings auch das Individuum gegenüber der Gesellschaft marginalisiert und Pluralismus im Keim erstickt wurden. CDU, FDP und SPD differenzieren freilich nicht. Ihre platte These lautet: Das war ein Unrechtsstaat, aber eure Biografien waren okay. Damit wird den Menschen freilich jede Mitverantwortung abgenommen. Das ist ein gefährliches Loblied auf den Opportunismus und erteilt Absolution für alle Verhaltensweisen, die eine Demokratie von innen aushöhlen können. So einfach dürfen wir es uns nicht machen.

Für Ihre politische Konkurrenz ist die Sache einfach.
Im Landtag sagte CDU-Fraktionschef Jürgen Scharf, man werde es mir nicht gestatten, die Geschichte »umzuinterpretieren«. Ich erwiderte: Sie werden es gestatten müssen, weil seit 60 Jahren das Grundgesetz gilt. Das Problem ist aber, dass sich Scharf nicht im Begriff vertan hat. Er glaubt, dass es inzwischen eine führende Partei CDU gibt, die man fragen muss, welches Geschichtsbild man haben darf. Da lebt offensichtlich manches aus der DDR ungebrochen weiter. Das zeigt, dass es für die CDU höchste Zeit ist, ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten.

Wie soll die LINKE mit dem Begriff Unrechtsstaat umgehen?
Wir sollten ihn ablehnen, weil er nicht nur ausdrücken soll, dass die DDR kein Rechtsstaat war, sondern dass sie zu Unrecht existiert habe. Die Gründung der DDR war aber nicht mehr und nicht weniger Unrecht als die der Bundesrepublik. Man muss freilich auch ihre Fehler kritisieren und darf das nicht dadurch überflüssig machen, dass man, wie das in unserer Partei häufig passiert, erst einmal nur über die Fehler der Bundesrepublik redet. Das läuft unserer Intention eines demokratischen Sozialismus zuwider.

Hätte sich die Partei besser auf das Thema vorbereiten müssen?
Auch ich habe dafür plädiert, es nicht offensiv zu besetzen, weil ich es für schlimm halte, wenn die Geschichtsdebatte in den Wahlkampf gerät – obwohl absehbar war, dass die CDU sie zu einem zentralen Feld der Auseinandersetzung machen will. Womöglich haben wir unterschätzt, dass sie diese Intensität erhält. Im ersten Anlauf holte sich die CDU eine blutige Nase, als über die Biografien von Tillich und Althaus geredet wurde. Heute neige ich zur Ansicht, dass ein Thesenpapier, wie es in Sachsen erarbeitet wurde, auch in der Bundespartei sinnvoll gewesen wäre. Freilich: In der LINKEN gibt es, zumal seit 2005, ein breiteres politisches Spektrum auch beim Blick auf die DDR-Geschichte. Das ist legitim. Es erschwert aber die Verständigung auf gemeinsame Thesen, zumal wir in den letzten Jahren recht wenig über das Thema geredet haben. Womöglich hätte man sich schlicht überhoben.

Verständigung scheint in der LINKEN generell immer schwieriger. Bei der Debatte um das Wahlprogramm drängte sich das Bild eines unorganisierten Hühnerhofs auf.
Ich bin eher der Meinung, wir bräuchten mehr Hühnerhof. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Partei auseinander driftet. Mich stört eher eine zunehmend ideologisierte Ausrichtung. Es ist ein Problem für diese Partei, wenn auf dem Europaparteitag gefragt wird: Bist du für oder gegen Lissabon und damit wählbar oder nicht, oder wenn der Vorwurf, jemand sei Regierungssozialist, in NRW ausreicht, um von der Bundestagsliste verbannt zu werden.

Regierungssozialisten als »strukturelle Minderheit«, wie Carl Wechselberg vor seinem Austritt klagte?
Man muss akzeptieren, in dieser Partei manchmal einer Minderheit anzugehören. Das ist persönlich nicht angenehm; die Frage ist aber, wie sich die Partei entwickelt. In Umfragen zur Europawahl lagen wir nach dem Parteitag bei sechs bis acht Prozent. Wer die EU als »imperialen Machtblock« bezeichnet, muss sich da nicht wundern. Man erwartet wohl, dass mit sich verschärfender Krise die Leute für diese Diktion ansprechbar werden; ich glaube das nicht. In Sachsen-Anhalt sehen sie, wie die EU das größte Schulbauprogramm im Land finanziert. Ich hoffe, dass unsere gute Werbekampagne erfolgreich sein wird. Sie sagt, was wir auf europäischer Ebene bewegen wollen.

Das klingt pessimistisch.
Man kann nur auf Lernprozesse hoffen. Es ist ja nicht garantiert, dass diese Partei permanent erfolgreich und vernünftig läuft. Womöglich erleiden wir auch Rückschläge.

Ist das ein Ost-West-Konflikt?
Nein. Im Osten und im Westen gibt es Mitglieder, die fragen: Was denken die Leute, wie erreichen wir sie? Und welche, die sagen, was sie zu denken haben. Es trennt sich an der Frage, ob die LINKE Ideologiepartei ist oder fragt, was wir in dieser Gesellschaft verwirklichen können.

Diese Frage war auch im Osten nie wirklich entschieden. Insofern stimmt zwar die These von der strukturellen Minderheit, aber man muss auch nichts überdramatisieren. Diese Partei kann natürlich vor ihrer Verantwortung fliehen, aber ich bin zuversichtlich, dass sie sich mit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zunehmend bewusst auseinandersetzt, auch im Westen.

Und Sie müssen nur lange genug durchhalten?
Wer Verantwortung für die Partei übernehmen will, der darf sich nicht in Graben- und Flügelkämpfe begeben. Man muss versuchen, erfolgreich zu arbeiten, beharrlich für Positionen kämpfen, auch wenn es die einer Minderheit sind. Sollte beispielsweise beim Bundestagswahlprogramm wieder versucht werden, Glaubensbekenntnisse anzuhäufen, darf man eben nicht um des lieben Friedens willen am Kompromiss festhalten, sondern muss die eigene Position ausformulieren, damit eine Spannbreite deutlich wird.

Allerdings braucht man dafür in unserer Partei ein dickes Fell, was die Art und Weise der Auseinandersetzungen um Kandidaturen für das Europaparlament und den Bundestag ausreichend unter Beweis gestellt hat. Hier müssen wir entschieden für eine andere politische Kultur in unseren eigenen Reihen streiten.

Der Schritt von Sylvia-Yvonne Kaufmann, in die SPD zu wechseln, ist inhaltlich völlig unglaubwürdig. Aber dass sie aus Frust bei uns ausgetreten ist, hat auch etwas mit dem Umgang untereinander zu tun.

Der Fraktionschef der LINKEN in Sachsen-Anhalts Landtag gilt als Mann klarer Worte. Wulf Gallert, der zusammen mit seinem SPD-Kollegen Jens Bullerjahn vor 15 Jahren das sogenannte Magdeburger Tolerierungsmodell organisiert hatte, ist inzwischen ein scharfer Kritiker der Großen Koalition im Landtag – und damit auch für Finanzminister Bullerjahn ein ernst zu nehmender Kontrahent. Auch innerhalb der LINKEN hält der 45-Jährige mit seiner Meinung selten hinterm Berg. Mit dem Magdeburger Oppositionsführer sprachen Gabriele Oertel und Hendrik Lasch.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal