Krisenbewältigung: Vom Osten lernen ...

»Leitbild Ostdeutschland 2020« – ein Diskussionsangebot

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Schluss mit dem Jammerossi! Im Osten geht die Sonne auf und der ganzen Bundesrepublik vielleicht ein Licht! So etwa kann man das »Leitbild Ostdeutschland 2020« verstehen, das Vertreter der Linkspartei gestern in Berlin vorstellten.
Krisenbewältigung: Vom Osten lernen ...

Dass Gregor Gysi, der Fraktionschef der LINKEN im Bundestag, nicht über mangelndes Selbstbewusstsein klagen kann, ist allgemein bekannt. Doch wie ist es mit seinen Nachbarn, jenen, die mit ihm im Osten der aktuellen Bundesrepublik aufgewachsen sind und noch immer leben?

Allzu viele haben wenig Grund, mit optimistischem Gesicht in den Tag, geschweige in die Zukunft zu blicken. Parallel zur Pressekonferenz der Linksfraktion hat der Paritätische Gesamtverband einen düsteren Bericht vorgelegt. Danach liegen die Armutsquoten (gemessen lange vor der neuerlichen Krise) in Ostdeutschland – wo die Arbeitslosigkeit ohnehin am höchsten ist – deutlich über jenen im Westen: In den Ost-Bundesländern zwischen 17,5 Prozent in Berlin und Brandenburg und 24,3 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern. Die wenigsten Armen leben im Süden Deutschlands. Und ausgerechnet die »Wessis« sollen nun von den »Ossis« lernen?

Klar, und zwar schnell, meint Gysi. Doch er denkt sich das anders als die neoliberalen Wirtschaftsweisen, die Gleichheit auf niederem sozialen Niveau erreichen wollen. Der Linke benennt nach wie vor »Ungerechtigkeiten, die noch ausgeglichen werden müssen, Lücken, die zu schließen sind«. Stichwort Rente, zu dem Thema wird die Linksfraktion demnächst zahlreiche Anträge ins Parlament einbringen. Zur namentlichen Abstimmung, auf dass sich jeder Abgeordnete erklären kann.

Gestern jedoch sprachen Gysi, Roland Claus als Ostbeauftragter der Linksfraktion und André Hahn, Fraktionschef in Sachsen und derzeit Leiter der Fraktionsvorsitzendenkonferenz der Partei, nicht über Rückwärtsgewandtes. Da war wenig »Ostalgie« im mäßig gefüllten Saal der Bundespressekonferenz. Die 42-Seiten-Studie ist nicht als Treibstoff für den Wahlkampf gedacht, betonte André Hahn, wissend, dass sie das natürlich objektiv sein kann. Doch es geht um mehr. Gewiss übertreibt Hahn, wenn er sagt, die LINKE sei der »Garant, um aus der Krise zu kommen«. Und wenn Claus meint, dass die Studie eine »Gebrauchsanweisung für neues Denken ist«, dann muss erst einmal das Bewusstsein da sein, dass es ohne weiter bergab geht.

Die Studie will nicht weniger sein als Anregung zu einem »Paradigmenwechsel hin zum sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft«. Hinter dieser These verbergen sich »Transformationserfahrungen« des Ostens, die bundesweit relevant sein könnten.

Man sah, wie sich die Augen vieler Berichterstatter schlossen und Stoßgebete gen Saaldecke gingen, als auf dem Podium von Polikliniken, Kindertagesstätten oder der Funktion eines stellvertretenden Schuldirektors für außerschulische Arbeit gesprochen wurde. Das alles und noch mehr gab es in der DDR – und gibt es zum Teil wieder. Weil es – einst verteufelt – doch fern jeder Ideologie einfach vernünftig und notwendig scheint. Warum sonst würde beispielsweise eine CDU-Familienministerin Propaganda für derartige »Ostprodukte« machen? Die LINKE propagiert eine komplexe Sicht von Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung.

Wie wichtig die ist, haben zahlreiche Konzerne bereits begriffen. Wenn Claus zu Gast ist bei Unternehmern seines Wahlkreises in Sachsen-Anhalt, dann würden die ihn auf zahlreiche aktuelle Sorgen ansprechen. Ganz oben steht das Problem mit den Steuern. Doch dann käme sofort eine Frage auf den Tisch, die offenkundig bundesweit relevant ist: Bildung! Mehr und besser soll sie sein.

Doch nicht nur Erfahrungen und Strukturen aus DDR-Zeiten, die beim Anschluss an den größeren deutschen Brocken einfach geschleift wurden, lassen sich in der Studie nachlesen. Nicht nur Stichworte sind darin erneuerbare Energien, die im Osten einen größeren Stellenwert haben als in der restlichen Bundesrepublik. Es geht um regionale Kreisläufe, um Möglichkeiten der Demokratisierung der Wirtschaft und um die Vorteile von Genossenschaften. Gysi hatte bei manch westgewandtem Journalistenkollegen Schwierigkeiten, verstanden zu werden, als er zu erklären versuchte, wieso im Osten so viele Bauern an diesem Gemeinschaftseigentum hängen – wo doch ihre Väter und Großväter mit Gewalt in die LPG oder aus dem Lande getrieben wurden. Ähnlich verhält sich das mit dem von den LINKEN geforderten Ausbau des öffentlichen Beschäftigungssektors. Von den beim Stadtumbau Ost gemachten Erfahrungen kann sich manch westdeutsche Region eine Scheibe abschneiden. Zumal »die Platte« ja nicht eine Erfindung der DDR war. Interessant wäre sicher auch, wie man Forschungskapazitäten bündelt, Cluster bildet. Da hat der Osten nicht – wie so oft – einfach den Westen kopiert, sondern eigene Entwicklungen initiiert und Maßstäbe gesetzt.

Das »Leitbild Ostdeutschland 2020« kann – wenn nicht gleich zu einer Gebrauchsanleitung für gesellschaftliche Erneuerungen auch jenseits deutscher Grenzen in der EU – zumindest zu einem An- und Aufrege-Papier werden. Das wäre dann immerhin ein Anfang für eine echte deutsche Einheit

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal