Harakiri nicht in Sicht

Gesundheitsbranche beginnt Hauptstadtkongress mit Politinformation

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.
Gestern wurde in Berlin der »Hauptstadtkongress 2009 Medizin und Gesundheit« eröffnet, auf dem sich vor allem Firmen präsentieren, die in der Gesundheitswirtschaft arbeiten. Doch der erste Tag stand im Zeichen der Politik. Wie wirken sich Gesundheitsfonds und Finanzkrise auf die Branche aus, wurde gefragt.

Gesundheitsministerinnen sind auf dem Hauptstadtkongress gern gesehene Gäste. Sie werden meistens für die aktuellen Reformen gescholten und nicht selten ausgepfiffen. Gestern war das anders. Im voll besetzten großen Saal des Berliner ICC gab es mehrfach Applaus für Ulla Schmidt (SPD), die im Interview Auskunft über aktuelle gesundheitspolitische Fragen gab.

Ohne den Gesundheitsfonds, erklärte Schmidt, würde man jetzt über die Erhöhung der Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf bis zu 17 Prozent diskutieren. Der Fonds stabilisiere die Finanzlage der GKV. Auch ohne die Darlehen, die von den Krankenkassen im Jahr 2011 zurückgezahlt werden müssten, bekämen die gesetzlichen Kassen zusätzliche Gelder aus Steuermitteln. Die Frage, ob diese wie vereinbart zurückgezahlt werden könnten, wolle sie nicht beantworten. Das sei Kaffeesatzleserei, so Schmidt. Niemand könne sagen, was in zwei Jahren sei. Kürzlich hatte sich die Ministerin ohnehin für eine Erhöhung des jährlichen Steuerzuschusses zum Gesundheitsfonds auf 25 Milliarden Euro ausgesprochen. Sie gehe davon aus, so Schmidt, dass die Politik, die jedes Jahr die Höhe der Krankenkassenbeiträge für die GKV-Versicherten festlegen muss, dies verantwortungsbewusst tun werde.

Beifall bekam die Gesundheitsministerin für die Feststellung, dass viel zu wenig darüber geredet werde, was mit dem Geld geschieht, das im Gesundheitsfonds zur Verfügung steht. Dies eröffne eine andere Diskussion über Prioritäten. Eine Prioritätenliste für Behandlungen, wie sie Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe vorgeschlagen hatte, nannte Schmidt unsinnig. »Über Prioritätenlisten zu diskutieren, wird in Deutschland keine Mehrheiten finden. Da bin ich mir ganz sicher«, erklärte sie und heimste erneut starken Beifall ein. Leistungsbeschränkungen in den gesetzlichen Kassen sieht sie nicht: »Es gibt keine wirkliche medizinische Innovation, die nicht eingeht in die medizinische Versorgung für alle«, ist sie überzeugt.

Vor der handzahmen Befragung Ulla Schmidts durch Karin P. Vanis vom ZDF stellte der Ökonom Bert Rürup seine Sicht auf die nahe Zukunft der Gesundheitsbranche dar. Da sich die Arbeitslosenzahlen weiter erhöhen würden, rechne er erst zum Ende des Jahres mit negativen finanziellen Auswirkungen. Diese würden hier abgefedert, da die Branche nicht so exportabhängig sei und durch »Zwangsabgaben« finanziert werde. Doch perspektivisch sei das ein schwacher Trost, denn für den ehemaligen Politikberater und Erfinder der Rüruprente ist eine Gesundheitsreform 2010 – jenseits der kurzfristigen Ausgabenregulierung – so »sicher wie das Amen in der Kirche«.

Rürup sieht vier Möglichkeiten, die Mindereinnahmen der gesetzlichen Kassen durch das Ansteigen der Arbeitslosenzahlen zu kompensieren. In Frage käme eine Anhebung der Beitragsätze, die nach seiner Meinung nicht vermittelbar sei. Man könnte den Steuerzuschuss weiter anheben. Die dritte Option seien Leistungsbeschränkungen, die nach seiner Meinung einem politischen Harakiri gleichkämen. Das Gebot der Stunde sieht er in der Erhebung von Zusatzbeiträgen. Auch Ulla Schmidt rechnet damit, dass einige Krankenkassen diese erheben werden.

Zusatzbeiträge sind aber für jene, die sie zahlen müssen, nichts anderes als Beitragserhöhungen. Was sie dafür ausgeben, kann nicht mehr in private Gesundheitsleistungen investiert werden. Diese Bilanz ist allerdings frühestens zum nächsten Hauptstadtkongress fällig.


Der Kongress

Im Berliner ICC treffen sich bis zum Freitag rund 7000 Klinikmanager, Ärzte, Pflegekräfte, Gesundheitspolitiker sowie zahlreiche Firmen aus dem bereich der Gesundheitswirtschaft. Sie diskutieren über die aktuellen Probleme der Branche in Deutschland. Nach Angaben der Veranstalter sind in der deutschen Gesundheitsbranche rund fünf Millionen Menschen beschäftigt. Der Jahresumsatz liege bei mehr als 260 Milliarden Euro. Zu den Sponsoren des Kongresses gehören unter anderem Pharma-Unternehmen. ND

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