Büchner am Berliner Gorki-Theater: Leonce und Lena

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.
Szene aus »Leonce und Lena« (Maja Schöne und Mark Waschke)
Szene aus »Leonce und Lena« (Maja Schöne und Mark Waschke)

Du stehst und schweifst ab. Bist ungerecht. Denn da vorn mühen sich Schauspieler. Da vorn? Da vorn gibt es nicht.

Die Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters wurde in den Zuschauerraum verlängert, auf der somit neu entstandenen, langgezogenen Spielfläche umgrenzen Gitterstäbe einen Innenraum, in dem Käfige als Podien dienen, auch eine Trapezstange wird schwingend benutzt. Die Zuschauer umstehen (!) die Fläche, sind Teil der umgitterten Welt. Regisseur Tilmann Köhler (Bühne: Karoly Risz) sperrt uns ein.

Sein Woyzeck Michael Klammer ist eine Schwerkraftseele, den hält eine Innenwelt aus drückenden Steinen tieftraurig; die Marie der Julischka Eichel ist aufgekratzt von gestauter Lust, derb in mehreren Variationen; Robert Kuchenbuch, mit Texten vom verführerischen, auftrumpfenden Hauptmann und dem (als Rolle eingesparten) Tamboumajor, läuft hin und, wie ein Tiger halt hin und her läuft, der statt des Fells Anzug trägt. Hilke Altefrohne ist Doktor und Ausrufer, quasi eine Spielführerin und irgendwie verantwortlich für die grotesk-irrlichternden Beilagen. Max Fröhlich ist Woyzecks Gefährte Andres, eine gut einsortierte Beiläufigkeit, und zur Beiläufigkeit verurteilt wurde auch die Kapelle, die oben auf dem Rang agiert; wie weit entfernt doch etwas sein kann, das ganz nah postiert ist.

Georg Büchners Fragment vom kleinen Menschen, den die Machtmaschine Gesellschaft vernichtet, der zum Mörder an seiner Marie wird: Das Sozialdrama schreit nicht, die Liebesgeschichte weint nicht. Wie gesagt: Du stehst, schweifst ab. Denkst dir Woyzecks herbei, die du gesehen hast.

Jens Harzer bei Martin Kusej, München. Auf blauem Müllsäcke-Meer ist dieser Mensch – ziehende, singende Stimme, kühner Blick ins Wesenlose – ein längst Entrückter, eine Kunst-Gestalt, nicht berührbar und einholbar durch Mitleid und Strafe. Büchner als nahezu geheiligter Text, kein Steinbruch, aus dem herausgeschlagen wird, was uns vor den Kopf stoßen soll.

Viktor Tremmel bei Volker Lösch, Dresden. Woyzeck als Bierpullen-Kopfloser. Ein vielstimmiges Porträt der »Wunde Woyzeck« (Heiner Müller) als deutsche Gegenwart: Lichterketten, Sandmännchen-Nostalgie-Säuseln, Nazigebrüll, Nischen-Nichtigkeit, Prekariats-Pogromlüste. Willkommen im tiefen Osten.

Bruno Cathomas’ Woyzeck bei Thomas Ostermeier, Schaubühne. Ein Gehetzter im Plattenbau-Panorama (das Elend: Ausländer rein!), ein weicher, ungelenker, rührender Scheiter-Haufen Mensch. Von schwerer Versonnenheit. In zu enger Jacke, die flatternden Hände mit Hang zur Hosennaht. Fast staunend beobachtet er, wie sich ungeheure Dinge in ihm vorbereiten, er wird der Welt helfen, die Seele in ihm zu überwinden.

Peter Moltzens Woyzeck bei Michael Thalheimer, Hamburg. Ein lächelnd gefährlicher Stilist der Zerstörung – der sich im Morden eine Welt zurückholt, die er nie besaß. Er tötet alle Figuren des Stücks, das Messer springt sanft an Kehlen, Umarmungen sind der sichere Erstickungstod. Nach wie vor der provokativste Woyzeck der letzten Jahre: Die Kreatur ist nicht Opfer, sondern Auslöser einer Vernichtungsorgie, der all die Gründe, um gehasst, gefürchtet zu werden, selber souverän vorgibt. Amokläufer, Attentäter.

Wollten wir nicht über Köhlers Woyzeck befinden? Erinnerung übernimmt die Regie, die Gegenwart dieses Abends ist zu bedrückend etwas nur Gewolltes, im Ruppigen doch arg Gezirkeltes; wie sagt man so unschön? Da kommt nichts ’rüber, obgleich wir doch mitten drin sind.

Dieser »Woyzeck« schlägt nicht, nicht aufs Gemüt, nicht zurück, nicht zu Buche. Da war eine Idee, der Käfig, der öffentliche Platz (Anleihe bei einer Spielanweisung von Büchner selbst), die Prangersituation. Die Idee war wie ein Gitter, sie sperrte zu, sie sperrt das Erlebnis weg, das leider keines werden kann. Der engste Raum ist keine Garantie für Bedrängungen. Nur die Enge des Ansatzes ist echt.

Den Einsamsten frag, was Liebe sei. Die Beine frag, wie lange ein Theaterabend sein kann. Neunzig Minuten, das ist die kurze Wahrheit, und es ist eine Lüge, so sagen die Beine, die sich in eine Ewigkeit hingerammt fühlen.

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