Fliegende Bauten mit 90 km/h

Auf dem Deutsch-Französischen Volksfest locken 150 Fahrgeschäfte, das größte ist 60 Meter hoch

  • Lesedauer: 4 Min.
Das Deutsch-Französische Volksfest vom 12.6. bis 14.7. – auf 40 000 Quadratmetern das größte in Berlin – lockt mit seinen Attraktionen. Dazu gehören auf der Festwiese am Kurt-Schumacher-Damm 207 in Reinickendorf auch 150 Fahrgeschäfte. Das 60 Meter hohe »Giant Ride« etwa befördert Fahrgäste mit 90 km/h durch die Luft. Über die technische Entwicklung, Sicherheit und Gruselfaktoren von Extrem-Karussellen befragte den Experten Michael Hesse die ND-Autorin Dagmar Pohland.
Der 38-Jährige Michael Hesse ist Vizepräsident und Vertriebsleiter des weltweit operierenden Karussellherstellers HUSS Park Attractions GmbH in Bremen.
Der 38-Jährige Michael Hesse ist Vizepräsident und Vertriebsleiter des weltweit operierenden Karussellherstellers HUSS Park Attractions GmbH in Bremen.

ND: Neben gemütlichen Karussellen gibt es Fahrattraktionen, die Nervenkitzel durch außergewöhnliche Höhen, Geschwindigkeiten und Drehungen bereiten. Kommt für Menschen mit Höhenkoller nicht alles auf dasselbe hinaus?
Hesse: Bis 2001 boten »Thrill Rides« mit 20 Metern die maximal denkbare Größe eines Rundfahrgeschäfts. »Giant Rides« sind sehr viel höher gebaut und verfügen über größere Sitzkapazitäten. Das macht sie für den Markt attraktiver, und natürlich bieten ihre außergewöhnlichen Höhen, die bis zu 50 Meter betragen können, einen zusätzlichen Gruselfaktor.

Nun sind der Fantasie Grenzen durch die Belastbarkeit des menschlichen Körpers gesetzt.
Wir richten uns nach medizinischen Parametern und den technischen Richtlinien, die der TÜV für diese »fliegenden Bauten« vorgibt – dieser Begriff wird übrigens tatsächlich in der Fachsprache so benutzt.

Wie stark kann denn der menschliche Körper in Vergnügungsmaschinen belastet werden?
Der Mensch hält am besten Bewegungen parallel zur Wirbelsäule aus. Querbeschleunigungen wie bei Achterbahnen muss man durch entsprechende Formung von Sitz und Bügel oder besondere Biegung der Schienen ausgleichen, sonst ergeben sich ungünstige Effekte wie bei einem Auffahrunfall. Prinzipiell achten wir darauf, den Erdbeschleunigungswert von 4,5 g nicht zu überschreiten. Unter Beschleunigung versteht man allgemein die Geschwindigkeitsänderung pro Zeiteinheit. Wenn man normal auf dem Boden steht, ist der Körper einer Erdbeschleunigung von 1 g ausgesetzt. Ein »Thrill Ride« beschleunigt den Körper also auf das 4,5-fache.

Wenn ein Karussell fertig gestellt ist, schicken Sie dann eine Art Himmelfahrtskommando los, um den Apparat zu testen?
Das wäre viel zu spät. In diesem Stadium haben wir schon Millionen investiert. Wir testen zuerst mit Computer-Simulationen.

Ist Angst in Großkarussellen nicht ein bisschen gerechtfertig?
Generell arbeiten wir mit diversen Sicherheitssystemen, die Unfälle verhindern, wenn z. B. ein Bauteil ausfällt. Außerdem können sich die Sitzbügel nicht von allein öffnen, sondern es muss erst Druckluft zugeführt werden. Wenn, dann verhalten sich manche Fahrgäste nicht korrekt oder es ist ein Fehler des Bedieners. In besonderer Erinnerung ist mir der Todesfall eines jungen Mädchens vor ein paar Jahren, das seinen Rucksack bei der Fahrt mit hatte. Dadurch waren die Sitzbügel in der Höhe nicht gesichert.

Darf jeder mit einem Schraubenzieher in der Tasche ein Karussell aufbauen?
Theoretisch schon. Allerdings liegt die rechtliche Verantwortung zunächst immer beim Hersteller.

Was kostet ein sehr hohes und schnelles Fahrgeschäft?
»Thrill Rides« liegen bei 1,6 Millionen Euro und »Giant Rides« bei 4 Millionen Euro.

Sind Schausteller auf Rummelplätzen angesichts der Weltwirtschaftskrise noch bereit, so viel Geld dafür auszugeben?
Nein. Die Ausgaben eines Schaustellers für neue Fahrgeschäfte liegen weit unter einer Million Euro. Zum einen ließ die Zunahme an neuen Freizeitangeboten durch visuelle Medien und Internet die Umsätze auf dem Rummel schon seit Mitte der 90er Jahre deutlich sinken. Zum anderen ist ein großes Fahrgeschäft für Schausteller schlichtweg unrentabel.

Heißt das, dass Sie sich komplett von Rummelplätzen zurückgezogen haben?
Unsere »Thrill Ride«-Klassiker, wie »Top Spin« oder »Frisbee«, sind durchaus auf Rummelplätzen präsent und bei seriös finanzierten Anfragen lassen wir für Schausteller auch gerne wieder die älteren Anlagen aufleben. Sie können zusammengeklappt auf fahrbaren Untersätzen an LKWs gehängt werden.

Was aber Neuentwicklungen betrifft, produzieren sämtliche deutsche Hersteller seit etwa zehn Jahren nicht mehr für den Rummel, sondern statten Freizeitparks weltweit aus.

Wie lange halten sich neue Karussellmodelle erfolgreich auf dem Markt?
In Freizeitparks hat das Familienerlebnis eine größere Relevanz als der Nervenkitzel. Für Parks ist vor allem die Kapazität von Fahrgeschäften entscheidend. Dort liegt die Halbwertszeit bei zwei bis drei Jahren. Auf dem Rummel ist eher das Einzelerlebnis gewünscht – also eine gute Mixtur aus Attraktion, Höhe und Geschwindigkeit. Kommerziell betrachtet, bräuchte man dort jedes Jahr eine Neuheit, mit der man Leute anzieht, die es natürlich nicht immer gibt.

Wohin geht der Trend?
Es wird zunehmend interaktive Fahrgeschäfte geben, bei denen Fahrgäste oder auch vor dem Fahrgeschäft Wartende Einfluss auf eine Fahrt nehmen können. In Freizeitparks sollen zudem Indoor-Attraktionen, wie Achterbahnen in Gebäuden, entstehen. Damit ist man dann saison- und wetterunabhängig.

Fahren Sie eigentlich selbst gerne Karussell?
Am liebsten besuche ich sehr hohe Attraktionen, z. B. Freifalltürme. Außerdem bin ich ein Anhänger des unter Achterbahn-Fans beliebten so genannten »Air- Time«-Effekts. Da wird man bei voller Fahrt nicht etwa in den Sitz gedrückt, sondern hebt richtig ab.

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